Hallo,
Ich bin seit heute Mitglied dieses Forums, weil ich mich aktiv mit meinem Problem außeinander setzen will. Es kostet mich viel Kraft. Ich danke schon mal sehr für eure Zeit und eure Expertise. Leider sind nur 10.000 Zeichen erlaubt, weswegen ich den Beitrag aufteilen muss in Hauptbeitrag + 1 Kommentar.
Ich bin 30 Jahre alt und verheiratet. Ich bin vom Beruf Wirtschaftsinformatiker.
Schon mein ganzes Leben kämpfe ich mit spontanen Wutausbrüchen. Mir fällt es auch schwer diese Ausbrüche zu kontrollieren oder zu therapieren, denn sie wird innerhalb von Bruchteilen von Sekunden entfacht.
Gerade noch fröhlich und munter, passieren Situationen, die das Feuer in mir entfachen. Dies geschieht in nicht einmal einer Sekunde. Ich habe verschiedene Techniken versucht anzuwenden, wie man diese Wut kontrolliert und dämpfen kann. Jedoch komme ich gar nicht dazu, weil der “point of no return” sehr schnell erreicht wird. Es reißt mich mit wie eine Flutwelle und ich spüre, wie sich mein Verstand ausschaltet und mein Herz spricht. In diesen Momenten werde ich immer lauter und lauter. Auch kann ich meine Tränen nicht kontrollieren, was meinen Stolz verletzt und mich noch wütender macht. Es gibt für mich keinen Weg, die Wut zu vermeiden. Die einzige Möglichkeit ist es zu versuchen mich schnell wieder abzureagieren - und zwar auf richtiger Weise. Wenn ich nach 2-3 Minuten mir einrede “RUHE JETZT, BEVOR JEMAND ZU SCHADEN KOMMT” gibt es zwar keine Aktion nach außen. In mir staut es sich aber. Und ich drücke es einfach zusammen. Ich begrabe die Wut in mir und das hilft bei der Schadensbegrenzung. Nicht aber mir selbst.
In der Familie und bei der Arbeit bin ich ein lebensfroher, witziger Kerl. Ich werde auch oft als “ruhiger Typ, der sich nicht stressen lässt” bezeichnet. Kollegen finden auch in mir einen Ruhepol, sodass sie dann auch ruhiger werden.
Als Kind bin ich auch sehr schnell aggressiv geworden, und habe direkt mit Schimpfwörtern um mich geworfen. Ich habe geschrien. Jedoch nie zugeschlagen. Ich kann mich in meiner Jugend an keine Situation erinnern, wo ich mal zu irgendjemanden handgreiflich wurde und Schaden zufügen wollte. Auf der anderen Seite war ich wegen meines Gewichtes und meines Herkunfts immer das Opfer - der fette, dönerfressende Türke halt. Ich habe X-Füße, weswegen ich auch oft gehänselt wurde. Oft wurde ich auch verschlagen. Ich wurde auch in einen Kreis gezerrt und mir hat man das Knie in den Kiefer gerammt. Mein Zahn ist immer noch verstellt. All das habe ich in mich hinein gefressen.
Im Jugendalter therapierte ich mich vorsorglich mit deutscher Rapmusik. Azad, Jonesmann, Kool Savas haben Texte, die mir Hoffnung gaben, dass doch mal alles besser wird. Die Wutausbrüche wurden zwar nicht weniger, jedoch lernte ich welche Situationen mich wütend machen und so ging ich denen aus dem Weg. Ich entwickelte mich zu einem Computerfreak. Lebte zurückgezogen. Hab Kontakt gemieden. Es hat sich rumgesprochen, dass ich mich gut mit PC Hardware auskenne und Computer schneller machen kann. Ich half den Menschen und sie bedankten sich. Das war für mich ein Licht. Ich bin nicht mehr der fette dönerfressende Türke, sondern die Menschen respektieren mich.
Das wurde allmählich zu einer Sucht. Ich versuchte immer nach Anerkennung zu streben. Das Gehensel wurde weniger, mit dem voranschreitenden Alter. Nach einer Weile macht es wohl kein Spaß mehr. Für die restlichen Kommentare stand ich dann immer darüber. Ich habe erkannt, dass es auch Menschen gibt, die mich mögen. Somit war es mir egal, was die Deppen dachten.
Realschule erledigt, Abitur erledigt, Studium erledigt. Von zuhause ausgezogen. Die Wutausbrüche, die inzwischen seltener geworden sind, waren dennoch da.
Danach bin ich beruflich für ein halbes Jahr nach Indien gereist. Der Kulturschock meines Lebens. Die Inder sind ein harmonisches, ausgeglichenes Volk. Jedoch kam ich nicht mit den ungefilterten Blicken klar. Und auch nicht mit dem Geruch, der in meiner Gegend geherrscht hat. Das hat mich sauer gemacht. Jeden Tag wütend, aggressiv und sauer. Es hat kein Ende genommen,... bis ich schließlich krank wurde. Meine Wut hat mich krank gemacht. Ich hatte Magengeschwüre, Herzrasen, Zitteranfälle. Ich betrachte dies immer noch als ein Wendepunkt meines Lebens. Ich erkannte, dass diese Wut nicht nur meinem Umfeld, sondern auch mir selbst schadet - gerade mir selbst schadete. Und ich dachte mir “Wozu das Ganze? Wieso tue ich mir das an?” Und so fing ich an das Leben mit Gelassenheit zu nehmen. Dinge, die meine Wut eigentlich entfacht hätten, entgegnete ich mit einer kindlichen Ignoranz. Ein Verständnis dafür, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern konnte. Mein Selbstwertgefühl stieg. Ich fing an mit Sport, hatte mein Einkommen. Konnte mir Schritt für Schritt meine Träume erfüllen.
Irgendwann dachte ich mir “alleine macht das Leben kein Spaß.” Und so lernte ich meine heutige Frau kennen. Sie ist das beste, was mir je passieren konnte und ich hüte und schütze sie wie mein Augapfel. Inzwischen sind wir ca. 19 Monate verheiratet und wir geraten immer noch in Gelächter aus.
Ich konnte durch Sie meine Wutausbrüche komplett abschalten. Ich wollte ihr immer zeigen, dass ich ihr Fels in der Brandung bin. Der stabile Ehemann, der nicht nachgibt, sondern immer stark ist, immer ruhig und objektiv bleibt. Der sie auffängt. Wut bedeutet Anarchie. Chaos, Unberechenbarkeit. Wie ein großer Baum, der auch unter der heißesten Sonne Schatten spendet.
Nun fühle ich aber wieder einen Rückfall. Anfangs wurde ich nur immer lauter bei Problemen. So kannte sie mich nicht und es machte ihr Angst. “Gut”, dachte ich. “Wenn man mal lauter diskutiert, ist das kein Beinbruch. Im Gegenteil, es ist sogar gut, wenn eine Diskussion mal ins Eingemachte geht und man sich ehrlich austauscht”. Nun sind aber in der nicht allzu langen Vergangenheit Dinge passiert, die mich an mir Zweifeln lassen.
Ereignis 1:
An einem schönen Tag, haben wir uns schön angezogen und ins Auto gestiegen. Wir fuhren zu einer Hochzeit und wir sahen echt gut aus. Das hat uns Spaß gemacht so gut aus zu sehen, Wir mussten auf die Autobahn auffahren. Die zweispurige Auffahrt wurde zu einer Einspurigen, sodass ich mich von links nach rechts einfädeln wollte. Mein Hintermann erlaubte mir das aber nicht. Um den Verkehr hinter mir durch eine Bremsung nicht zu gefährden, entschied ich mich Vollgas zu geben um doch noch einscheren zu können.
Ein Blick in den Rückspiegel und ich sehe einen Stinkefinger…. Es ging alles so schnell. Meine Frau hat gar nicht verstanden was passiert ist. Wir waren gerade so gut drauf, haben im Auto gesungen und uns seelisch auf eine coole Hochzeitsparty vorbereitet.
Dieser Mahlstrom von Wut riss mich mit.
Ich habe gebremst und bin ausgestiegen. Es waren zwei Frauen, die mich durch ihre Sonnenbrillen anschauten. Ich bin vor das Auto und habe mit beiden Händen Stinkefinger geformt und gerufen “Hier! ich kann das auch! Hier schaut!”. Danach bin ich wieder ins Auto und bin zugefahren.”
Es war von den Damen eine unschöne Geste. Vielleicht haben die mein Fahrverhalten falsch interpretiert. Aber was gibt jemanden das Recht mir deswegen den Stinkefinger zu zeigen? Nicht schön. Aber meine Reaktion war unschöner. Mitten auf der Straße aussteigen und solche Gesten zu kopieren war etwas, was mich selber überrascht hat. Wieso mache ich sowas? Ich habe mir vorgenommen, so etwas in der Art nie wieder vorkommen zu lassen. Ich lasse mich im Straßenverkehr nicht mehr provozieren. Denn meine Reaktion zeigte sich schlimmer als die Aktion selbst. Und es klappte auch. Gesten, Kopfschütteln, beleidigende Mundbewegungen ignoriere ich. Und es klappt bisher ganz gut. Werde ich dabei wütend? Ja, ein bisschen. Aber ich denke mir “Ich bin in diesem Auto. Der andere in dem anderen Auto. Und in 2 Sekunden werde ich diese Person nie wieder sehen”.