• Buchtitel:
    Samarkand- eine Reise in die tiefen der Seele

    Schriftsteller/Verlag:
    Olge Kharititi

    Buchbeschreibung:
    Ich hatte keine Erwartungen. Ich saß einfach da und schaute ins Feuer, bis ich kaum noch etwas anderes wahrnahm. Nur Sulemas Gesicht tauchte hinter den Flammen ab und zu auf. Ich hörte sie sagen: »Hier erzählt man sich gern Geschichten. Können Sie mir eine erzählen? Erzählen Sie mir die rätsel hafteste Geschichte, die Sie kennen.« Sulema hatte diese Bitte sicher nur ausgesprochen, weil sie wollte, dass ich mich wohl fühlte, und dafür war ich ihr dankbar. »Jetzt?« »Ja, warum nicht.«Einen Augenblick lang sann ich über ihren Vorschlag nach, dann fiel mir plötzlich die Geschichte von Hamlet ein, eine Geschichte, die mir seit meiner Schulzeit zu denken gegeben hatte. »Also gut, ich kenne eine solche Geschichte. Sie beschäftigt mich schon seit Jahren, weil es mir nie gelungen ist, einen endgültigen, erschöpfenden und unzweideutigen Sinn darin zu finden. Diese Geschichte hat sich vor langer Zeit abgespielt. Es war einmal ein Prinz, der in einem weit entlegenen Land lebte. Der Vater des Prinzen war erst vor wenigen Monaten gestorben. Seine Mutter hatte wenig später seinen Onkel geheiratet, der Onkel wurde König, und der Prinz lebte in dessen Königreich. Er war kein ausgesprochen trauriger Prinz, und er fühlte sich auch nicht besonders einsam. Auf jeden Fall war er nicht verrückt. Doch dann änderte sich eines Tages alles, und auch der Prinz begann, sich zu verändern. An jenem Tag, genauer gesagt, in jener Nacht, begegnete er dem Geist seines verstorbenen Vaters, der ihm erzählte, wie der derzeitige König, sein eigener Bruder, ihn vergiftet hatte, um das Königreich und die Königin an sich zu reißen. Der Geist des Vaters verlangte Rache, und nachdem der Prinz diese Geschichte gehört hatte, gab es keinen Frieden mehr für ihn. Er dachte sich einen schlauen Trick aus: Er lud fahrende Schauspieler ein, die dem König und der Königin ein von ihm selbst geschriebenes Theaterstück vorspielen sollten. Das Stück erzählte die Geschichte des Mordes an seinem Vater, und die Schauspieler führten es für die Mutter und den Onkel des Prinzen auf. An der Reaktion des Onkels erkannte Hamlet dessen wahre Schuld, und ihm blieb keine andere Wahl, als fortan verrückt zu spielen.« »Er wurde getötet, stimmt’s? Der Prinz wird am Ende des Stückes getötet, nicht wahr?«, unterbrach mich Sulema, ohne das Ende abzuwarten. »Ja, das stimmt. Kennen Sie die Geschichte?« »Dieser Geist hat ihn getötet, der Geist seines Vaters.« »Eigentlich nicht …« »Oh doch. Der Prinz hat angefangen, nach den Spielregeln des Geistes zu handeln. Er hat sich dem Dämon des väterlichen Traumas überlassen, ihn in sich aufgenommen. Er hat es zugelassen, dass der Dämon seine eigenen Erinnerungen mit dem Schmerz seines ermordeten Vaters vergiftete. Der Prinz begann, auf Befehl des Geistes zu handeln, und deshalb musste er getötet werden. Er ist ja nicht wirklich verrückt geworden. Er hat nur mit den Mächten des Traumas gekämpft. Ich nehme an, er hat verloren. Er hatte keine Frau, nicht wahr?« »Nein. Aber er hatte eine Verlobte, die er zärtlich liebte. Als der Prinz immer liebloser und verrückter tat, hat sie sich das Leben genommen.« »Oh! Gibt es noch mehr Tote in der Geschichte?« »Ja. Der Vater der Braut und …« »Oh! Das war ja wirklich ein unersättlicher Geist, dieser Geist des Vaters. Eine gute Geschichte. Der, der sie geschrieben hat, kannte sich in dem Kampf aus.« Sulema fiel in Schweigen, und ihre zusammengekniffenen Augen schienen durch mich hindurch zu blicken. Über dem Feuer sah ich ihren freundlichen, lächelnden Mund, bis die Flammen wieder höherschlugen und ihr Gesicht verdeckten. Ich spürte, wie sich meine körperlichen Empfindungen veränderten. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft in meine angespannten Muskeln eindringen und die alten, schmerzhaften Knoten lösen, die sich dort gebildet hatten. Gleichzeitig spürte ich, wie sich meine Erinnerung befreite. Sie verwandelte sich in die Substanz, aus der die Träume sind, und schon bald überfluteten Bilder meinen Kopf. Es waren Bilder im Überfluss, doch nicht im planlosen Chaos; die Bilder waren alle durch eine unsichtbare, tiefgründige Ordnung miteinander verbunden, und meine Wahrnehmung ließ sich von ihr leiten. Das Feuer flackerte vor sich hin, es hatte eine vollkommen runde Form angenommen, als würde, wie durch ein Wunder, ein Abbild der Sonne vor mir erglühen. Eine Zeit lang starrte ich in sie hinein, bis sich alles rot färbte und die Sonnenscheibe schwarz wurde. Ich schloss die Augen und spürte, wie diese kleine Sonne vor mir pulsierte und sich auf mich zu bewegte. Ich versuchte, ruhig zu sein, ganz ruhig. Dann ver-nahm ich ein Geräusch, so, als öffnete sich ein Tor, und Michaels Stimme sagte: »Fürchten Sie sich nicht und denken Sie daran, dass es der Vater ist, der straft, und die Mutter, die vergibt. Ich werde bei Ihnen sein, wenn Sie mich brauchen.
    Unvermittelt wachte ich auf. In dem schmalen Krankenhausbett registrierte mein Körper sofort den Wandel meines Bewusstseins, den Wechsel vom Schlaf- in den Wachzustand. Mein Kopf dagegen sträubte sich, den Traum so schnell loszulassen. Eine Weile lag ich verwirrt da, versuchte zu ergründen, ob das Signal, das mich aus dem Schlaf gerissen hatte, der Schrei der Frau gewesen war, der immer noch in meinen Ohren nachhallte, oder etwas anderes. Das Klingeln des Telefons hatte mich geweckt. Der Schrei der Frau, der letzte Überrest meines Traums, verflüchtigte sich schnell, ließ sich nicht mehr einfangen, obwohl ich es versuchte. Als ich ans Telefon ging, blieb von dem Traum nur ein ängstliches Gefühl in meinem Herzen zurück. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war 2.30 Uhr. Ich wurde ins Haupthaus gerufen, um ein psychiatrisches Notgutachten zu erstellen. Das bedeutete, dass ich für den Rest meiner Nacht im Bereitschafts-dienst keinen Schlaf mehr finden würde. Ich musste über das Krankenhausgelände laufen.Gleichgültige Sterne, die hoch oben am winterlichen Nachthimmel standen, beleuchteten den Weg. Das sibirische Staatskrankenhaus war eines der größten in Nowosibirsk, mit tausend Patienten, die dort Monate, manchmal sogar Jahre verbrachten. Es stand außerhalb der Stadt in der Nähe eines Waldes, weit weg von den Wohngebieten. Die Sicherheitsvorkehrungen waren ziemlich gut: aus dem Krankenhaus zu fliehen warfast so schwierig, wie aus einem sowjetischen Gefängnis zu entkommen.Dennoch umgab in den Augen der Menschen, die in der näheren Umgebung wohnten, eine Aura von Gefahr und Geheimnis das Krankenhaus. Hin und wieder tauchten ein paar Jungs auf dem Gelände auf, die sich zuerst gegenseitig Mut machten und sich dann nah genug an die Mauern des Gebäudes heranwagten, um einen Blick durch die vergitterten Fenster zu erhaschen. Nachts war das Krankenhausgelände menschenleer und von tiefer Dunkelheit umgeben. Ich wollte die Strecke zwischen meinem warmen Bereitschaftszimmer und der Notaufnahme so schnell wie möglich zurücklegen. Ich trug nur einen weißen Kittel, keinen Mantel, und versuchte, der nächtlichen Kälte zu entkommen, bevor sie mir in die Glieder kroch. Ihre Schreie hörte ich, noch bevor ich die massive, eisbedeckte Hintertür zur Notaufnahme öffnete. Sie drangen in meine Ohren, als ich die Tür erreichte, und die ganze Kälte, die sich in der metallenen Klinke gesammelt hatte, brannte wie Feuer in meiner Hand. »Lasst mich los, bitte! Lasst mich los!« Sie schrie so laut sie konnte. Als ich den warmen Korridor betrat, sah ich sie auf einer schmalen, harten Trage liegen. Ihr Körper war mit breiten schwarzen Lederriemen an derTrage festgebunden, und sie warf verzweifelt den Kopfhin und her. Die beiden neuen Krankenpfleger hatten offenbar wenig Erfahrung mit psychiatrischen Patienten. Bemüht, professionell und unbeteiligt zu wirken schoben sie die Patientin hastig durch den leeren Krankenhauskorridor, um sie so schnell wie möglich in ein Untersuchungszimmer zu bringen. Ich folgte den Pflegern und musste mich anstrengen, mit ihnen Schritt zu halten. Als sie um die letzte Ecke bogen und die Trage in den Untersuchungsraum schoben, war von meiner Übermüdung nichts mehr zu spüren. »Danke. Sie können sie jetzt losbinden. Bitte warten Sie draußen auf mich.« Die Pfleger sahen mich zweifelnd an. Mit einem entschlossenen Nicken gab ich ihnen zu verstehen, dass ich wusste, was ich tat. Trotz ihrer extremen Erregung wirkte die Patientin keineswegs psychotisch. Ich wusste, dass die Anwesenheit dieser beiden Männer mir nicht helfen, sondern mein Gespräch mit der Patientin eher stören würde. Eilig lösten sie die Riemen, die bereits schmerzende, gerötete Druckstellen an den schmalen Handgelenken der Frau hinterlassen hatten,u nd verließen auf meinen Wink hin den Raum. »Ich bin Doktor Kharitidi. Ich bin Psychiaterin. Man hat mich gerufen, um Sie zu untersuchen.« Die Frau, jetzt überraschend ruhig, versuchte, sich auf der Trage aufzurichten. Ich half ihr, sich auf die Kante der Trage zu setzen, und bedeckte ihre Beine mit einem weißen Laken; die am Rand aufgedruckte Ziffer 8 bezeichnete die Station. Die Frau war offensichtlich benommen. Ich überflog ihre Papiere: neununddreißig Jahre alt, ledig, Selbstmordversuch mit einer Überdosis Tabletten. Laut Bericht des Notarztes war sie nicht ansprechbar, als ihre Nachbarin sie ins Krankenhaus brachte.

    Meine Meinung über das Buch:
    dieses Buch ist gerade dabei mein Leben nachhaltig zu verändern und ich bin nicht die einzige der es so ging
    sehr Empfehlenswert finde ich

    [ISBN]3548605311[/ISBN]

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