Und, wie geht es dir?

  • Wie geht es dir?
    Gut, gut. Studium läuft, unternehme viel mit Freunden und wie geht es dir?
    Och, auch gut, ich bin auch viel unterwegs.

    Heute ist Weltsuizidpräventionstag. Das ist mir ziemlich wichtig. Über Angebote zum Thema von illegalen Drogen, Sekten, AIDS und ähnliches, lese oder sehe ich hier täglich etwas. Aber wie sieht das mit den Informations- und Hilfsangebote beim Stichwort Suizid aus? Redet man darüber auch z.B. in der Schule, gibt es dazu auch staatlich geförderte Beratungsstellen? Wohl eher weniger.

    In meiner Gegend hatten wir im letzten Jahr drei Dorgentote, mehrere Verkehrsopfer und zum Glück keine einzige Person, die an AIDS starb. Wenn wir schon bei Statistiken und Zahlen sind: in meiner Region hat sich jede Woche ein Mensch das Leben genommen...

    Über eine Anti-Suizid-Kampagne in meiner Region lese ich diese Woche das erste Mal etwas. Sonst nur die Nummer von der Seelsorge im Regionalblatt. Da stellt sich automatisch die Frage, warum das Thema Suizid noch derart tabuisiert und unterschwellig ist. Fast jeder Mensch hatte bereits den Gedanken sich das Leben zu nehmen, aber kaum einer spricht das jemals aus.

    Laut mehreren Studien bringen sich die meisten Menschen aus Einsamkeit, wirtschaftlichen Gründen und aufgrund von Depressionen um. Sie denken, es geht nicht mehr anders, können nicht mehr weiter, sehen keine Chance für sich, sind so verzweifelt, dass sie es im Leben nicht mehr aushalten. Aktuell ist in den Medien zu verfolgen, dass immer mehr Menschen in Europa an Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen leiden. Schlagzeilen wie der aktuellen Burnout von Torwart Markus Miller machen die Runde. Mobbing, Zukunftsängste, Leistungsdruck und Süchte scheinen ständig mehr Menschen zu betreffen. Soziale Misstände haben fast überall Präsenz, werden sogar in Realitysoaps vermarktet. Menschen fallen durch unser gesellschaftliches Raster. Doch darüber sprechen – meist Fehlanzeige. Diese Themen sind nicht salonfähig. Die Antwort auf die Frage wie geht es dir? Ist in unserer Gesellschaft wohl häufig eine automatische Lüge.

    Suizid ist keine unheilbare Krankheit. Nichts, was fernab unserer Reichweite liegt. Es müsste ihn nicht geben.

    Ich sehe da wirklich jeden in die Verantwortung genommen. Suizid lässt sich verhindern. Das fängt schon im Kleinen an. Achtsamkeit im Umgang mit den Mitmenschen. Man kann sich lautstark im Supermarkt über die junge Kassiererin aufregen, weil sie so lange braucht, den Kopf über den Nachbarn schütteln, weil der nie grüßt, oder den Kollegen anschnauzen, weil er eine Frist nicht einhalten konnte. Man kann aber auch der Kassieren sagen, dass sie sich ruhig Zeit lassen soll, Ruhe ausstrahlen, den Nachbarn zum Grillen einladen oder den Kollegen beim Aufarbeiten helfen. . Man kann mal über den eigenen Schatten springen, den Menschen in der direkten Umgebung die Hand reichen. Vielleicht kann sich die junge Frau an der Kasse nicht konzentrieren, weil sie so unter Druck steht, dass sie Angst hat, etwas falsch zu machen, vielleicht hat der Nachbar ja eine soziale Phobie und bringt einfach kein Wort raus, vielleicht leidet der Kollege an Burnout oder Depressionen, fühlt sich im Stich gelassen und überfordert mit der Arbeit. Wer kann das schon so genau sagen? Sowas sieht man Menschen oft nicht an. Viele schämen sich. Und wenn auf einmal so ein Mensch weg ist, fragt man sich, was man hätte tun können oder wie so etwas passieren kann. Man hätte ihm Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Respekt schenken können, oder ein aufmunterndes Lächeln. Aber diese Dinge haben nicht nur Menschen verdient, die vorhaben sich umzubringen.. oder es gar schon getan haben. Das hat jeder verdient, auch jeder Gesunde. Wenn mich jemand nicht zurückruft kann ich ihn verfluchen und beleidigt sein, oder ich nehme den Hörer in die Hand und nachfragen, anstatt mich selbst blind und taub zu machen.

    Nur wenn eine Hand ausgestreckt ist, kann sie einen auch festhalten. Aber man muss eben auch nach ihr greifen, ihr mit der eigenen Hand entgegenkommen.

    Wie geht es dir?
    Nicht so gut, mein Studium setzt mich extrem unter Druck, jeder will was von mir, ich bräuchte wohl mal eine Auszeit. Und wie geht es dir?
    Scheiße.
    Über so ein Dialog kann man dann sogar schon fast wieder gemeinsam lächeln. Wenn ich ehrlich bin, ist mein gegenüber ebenfalls ehrlicher, wenn ich Vertrauen entgegenbringe, traut er sich vielleicht auch. Wenn ich die Dinge beim Namen nenne, tust du es vielleicht auch. Sowas geht. Mut und echtes Lachen sind genauso ansteckend wie ein Gähnen.

    Meine persönliche Meinung ist: Augen auf und lieber ein verständnisvolles Lächeln zu viel, als eines, das nie wieder lächelt. Lieber einmal richtig zuhören, statt tausendfach oberflächliche Profilierungsgespräche. Lieber einmal innehalten und hinschauen, als vorbei zu gehen. Im Grunde ist es so einfach, manche Leben zu retten, die Brücke zu schlagen, einen Schritt auf Menschen zu zu gehen. Dann trauen sich auch mehr Menschen, ehrlich auf die Frage zu antworten: „wie geht es dir“.

    Vielleicht erzählt der Mensch dir am Ende des Gespräches, dass er heute morgen schon daran dachte, allem ein Ende zu setzen. Das gibt es, ohne dass andere Menschen etwas von den Suizidgedanken ahnen. Hier vor Ort kommt das leider mindestens einmal die Woche vor.

  • Ich finde diesen Post spitze..! Nur glaube ich dass fuer viele Verdrängung ein Weg ist nicht hingucken zu muessen weil es zu aufwuehlend ist...Hatte oft ein offenes Ohr fuer andere und habe auch schon Geschichte(n) ueber Suizid in der nächsten Umgebung gehört, dass es mir den Magen umgedreht hat :-SS Im Sinne von Mitleid.

  • O, das wußte ich nicht, weder, daß es diesen Tag gibt, noch, daß er heute ist. Gut, daß du es hier bekanntgibst. Du sprichst mir aus der Seele mit diesen Gedanken. Auch wenn ich versuche freundlich zu meinen Mitmenschen zu sein, oder bemerke es nicht zu sein, habe ich mir diese Dimension noch nicht bewußt gemacht. Das stimmt, wir können alle das Tröpfchen sein, daß das Fass zum Überlaufen bringt, oder eben auch nicht. Also ist morgen ein Tag der Nächstenliebe und Mitverantwortung, gut das zu wissen. Danke granny.

  • Leider ist diese Frage " Wie geht es dir?" heut zu Tage oder wahrscheinlich schon immer, für die meisten doch leider nur eine Floskel.
    Man begnet sich " Hallo, na wie gehts dir?" der andere "och gut Danke "!
    Aber will der andere wirklich wissen wie es einem geht?
    Leider habe ich oft festgestellt das es so ist, das der fragende auf die Antwort " ach mir geht es überhaupt nicht gut" gar nicht wirklich wissen will warum es dem anderen nicht gut geht, er fühlt sich überfordert und wünscht sich meist nach ein paar Sätzen, diese Frage lieber nicht gestellt zu haben.
    Leider gibt es das sehr oft, ist mir selbst schon einige male passiert !!!!!!
    Deshalb finde ich deinen Beitrag grany, total gut und wenn mehr Menschen so denken und es so sehen würden wie du es hier beschreibst,einfach auch mehr Mitgefühl und Verständnis zeigen, gäbe es vielleicht auch weniger Brutalität und Hass auf dieser Welt.

  • Hi grany,

    echt klasse Beitrag und schön geschrieben. Danke für die Mühe. :smiling_face:

    Ich probiere aber mal inhaltlich in den Diskurs zu gehen, weil mir beim Lesen spontan ein paar Problemfelder eingefallen sind, mit denen ich im rl immer wieder konfrontiert bin.

    Erst einmal möchte ich deinen Aufhänger, den Dialog, aufgreifen. Ich für mich habe festgestellt, dass die ehrliche Antwort auf die Frage "Wie geht es dir?", also eben auch mal einfach "scheiße" zu sagen, regelmäßig als Verstoß gegen anerkannte gesellschaftliche Konventionen gewertet, und in der Folge regelrecht abgestraft wird. Es gibt eine Vielzahl Menschen, die regelrecht beleidigt darauf reagieren, wenn man eben nicht dem gängigen Begrüßungsritual folgt und man kann regelrecht erspüren wie die Konversation in die konfliktäre Ecke abdriftet. Man hat weder Zeit noch Lust sich tiefgreifender mit dem Gegenüber auseinanderzusetzen, hat man doch genügend eigene unpässliche Schuhe, die ein Drücken im Fußbereich zur Folge haben. Letztlich kann ich dafür sogar noch Verständnis aufbringen, auch wenn mir diese Umgangsform äußerst missfällt.

    Auch die Geschichte mit der jungen Kassiererin hat zwei Seiten. Betrachte ich die Wartenden, sich enerviert Zeigenden, so stelle ich vielleicht fest, dass einigen von ihnen die blanke Anspannung ebenso ins Gesicht geschrieben steht... drückende Termine, wartende Kinder, pünktlicher Arbeitsbeginn... auch hier vielleicht quälende Überforderung in einer rasenden Welt - eine Uhr sie zu knechten, oder so... die Kassiererin nichts als der willfährige Sandsack, um sich wenigstens ein wenig Raum zu verschaffen, der Wut - die eigentlich woanders hingehörte - etwas Luft zu lassen.
    Dabei fällt mir immer wieder eine Begebenheit ein: Ich nächtigte auf Grund von Weiterfahrt bei einem Arbeitskollegen, und wir wurden an einem Dienstag Morgen 7:30 jäh durch penetrantes Klingeln aus dem Schlaf gerissen. Anlass: eine aufgebrachte ältere Mitmieterin, die mit pochender Ader erfragen - oder besser erschreien - wollte, warum denn die Hausordnung noch nicht gemacht sei, schließlich sei Dienstag, er hätte Kehrwoche, dies gehöre sich von montags an, und wenn das jeder so handhabe, münde das über Kurz oder Lang in Anarchie. Als ich im Nachhinein begann mich kräftigst aufzuregen, brachte mich der Kommentar meines Arbeitskollegen zum Nachdenken: "Ach lass die doch... die hat doch nur die Fresse davon voll, dass sie's Jahr ein, Jahr aus selbst einmal im Monat machen muss und lässt hier ihren Dampf ab."

    Was ich eigentlich sagen will: Die Überforderungsproblematik ist eine generelle und ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Zu viele gehetzte Menschen: "Mir hängt der Magen schon seit Stunden in den Kniekehlen, ich komm aber einfach nicht dazu, mal etwas zu essen." Solange mir regelmäßig ähnliche Sachen begegnen, geht die Forderung an den Einzelnen, sich um mehr Kontakt und Verständnis mit und für seine Mitmenschen zu bemühen schlichtweg ins Leere. Leider.

    Das waren jetzt nur mal so meine spontanen Gedanken zum Thema.

    Allerliebste Grüße
    WbD

  • Zitat von WrongByDesign;206500


    Was ich eigentlich sagen will: Die Überforderungsproblematik ist eine generelle und ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Zu viele gehetzte Menschen: "Mir hängt der Magen schon seit Stunden in den Kniekehlen, ich komm aber einfach nicht dazu, mal etwas zu essen." Solange mir regelmäßig ähnliche Sachen begegnen, geht die Forderung an den Einzelnen, sich um mehr Kontakt und Verständnis mit und für seine Mitmenschen zu bemühen schlichtweg ins Leere. Leider.

    Das waren jetzt nur mal so meine spontanen Gedanken zum Thema.

    Allerliebste Grüße
    WbD

    Dem kann ich nur zustimmen!

  • Heute ist wieder Weltsuizidpräventionstag. Und auch wenn das schon 8 Jahre her ist, seit ich das geschrieben habe, so wären es doch heute genau die gleichen Worte.

  • Nun, deswegen habe ich den Hinweis erstellt (und der wird nun jährlich kommen), will es eigentlich immer nur Thema ist, wenn es um direkten Umfeld passiert oder Medien die Selbsttötung Prominenter breitgetreten wird.

    Aber du hast Recht, der Text aus 2008 hat heute genauso Gültigkeit, unverändert!

    Aber ganz ehrlich, wenn ich an mich denke, hätte keiner irgendwas mitbekommen! Wie geht's dir, die Frage würde mir auch gestellt, aber zugegeben hätte ich es nie.

    Aber ich wollte ja auch nicht von der Welt verschwinden, vielmehr glaubte ich mein Umfeld von mit erlösen zu müssen.

    So oder so, nur eines weiß ich ganz sicher, hatte es irgendwann mal geklappt, würde ich mich heute ganz schön in den Arsch beißen!

    Ich wünsche dir Möglichkeit hätten all die, die ich durch Selbsttötung verloren hab ...

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