PTBS durch Amoklauf event. triggernd

  • Nach der Grundschule wechselte ich 2000 auf ein Gymnasium, auf das Gutenberggymnasium in Erfurt. Die Schule war großartig, die Lehrer waren nicht einfach nur Lehrer, sie waren auch etwas wie Freunde. Das Schulgebäude so schlicht und trotzdem schön. Für mich war diese Schule etwas ganz besonderes. Ich habe so viel Schlimmes erlebt und die Schule war für mich immer wie ein Zufluchtsort. Ich habe mich dort richtig wohl gefühlt trotz Mobbing, aber da war das Gefühl von Geborgenheit durch die Lehrer. Sie nahmen sich selbst nach schulschluss Zeit für einen wenn man Probleme hatte, sie schauten nicht einfach nur weg. Am 26.04.2002 wurde dies alles kaputt gemacht. Am Morgen hatte ich wieder einen handgreiflichen Konflikt mit meiner Mutter, ganz ohne Grund. Deshalb war ich richtig froh, als ich endlich zur Schule konnte. Die erste Stunde hatte ich Kunst. Ich mochte das Fach nicht, aber die Lehrerin war toll. Sie war immer ganz schwarz gekleidet, schwarze Fingernägel, schwarze Haare aber mit einen riesen großen Herz. Immer wenn ich in den Kunstraum kam, hat sie mich begrüßt und gefragt wie es mir geht. Da war jemand den es interessierte wie ich mich fühle. Die Stunde ging recht schnell vorbei. Danach hatte ich Deutsch. Ich bekam nicht viel mit, denn mit den Gedanken war ich zu Hause. Ich konnte es immer noch nicht fassen, was heute morgen wieder passiert ist. Die dritte Stunde hatte ich dann Mathe, worauf ich mich freute. Gegen Ende der Stunde gab es sehr laute Geräusche, einen Knall. Wir dachten alle es wäre ein Abiturstreich und somit machten wir uns keine weiteren Gedanken. Nach Unterrichtsschluss musste ich noch da bleiben. Die Lehrerin wollte mit mir reden, sie merkte sofort das etwas nicht stimmte. Ich blockte ab und sagte es wäre nichts. Ich wollte nicht darüber sprechen, ich hatte Angst die Wahrheit zu sagen.Durch dieses Gespräch verpasste ich meine Klasse und beim Raumwechsel ging ich ins Dachgeschoss, denn da hätte ich normalerweise Unterricht. Allerdings fanden dort die Prüfungen statt und ich wusste nicht wohin ich gehen sollte. Und da war es wieder, ein Knall und noch einer und noch einer und überhaupt ganz viele. Ich ging runter und da ging der Horror für mich los. Ich sah wie ein schwarz angezogener Mann mit Sturmmaske eine Lehrerin erschoss. Ich war mir nicht sicher ob das alles ein Scherz ist oder der Ernst. Als die Lehrerin blutend am Boden lag war alles klar. Ich war wie erstarrt, ich konnte mich nicht bewegen. Ich stand auf der Treppe und der Mann kam mir immer näher. Ich wollte wegrennen, aber ich hatte jegliche Kontrolle über meinen Körper verloren, ich hatte kein Gefühl mehr in den Gliedern. Ich merkte das nun 2 andere Schüler hinter mir auftauchten. Der schwarze Mann stand nun nicht weit von mir entfernt, er hob seine Waffe, hat sie geladen und auf mich gezielt. In dem Moment war mir klar, dass ich hier nicht lebend raus komme. Doch dann zogen mich die Schüler mit die Treppe hoch. Ich hörte und spürte wie ein Schuss an mir vorbei durch das Fenster ging. Nun hatte ich auch wieder Gefühle und rannte um mein Leben. Der schwarze Mann verfolgte uns bis in die dritte Etage und ließ dann von uns ab. Panik, Todesangst, Verzweiflung, Ohnmacht. Wir rannten weiter ins Dachgeschoss und stürmten in einen Raum wo Prüfungen geschrieben worden. Die Lehrer waren dermaßen wütend und haben uns rausgeschmissen, sie haben uns nicht mal zu Wort kommen lassen. Nun standen wir vor der Tür, alles zitterte, ich weinte. Ich wollte nicht mit 12 Jahren sterben, nicht so. Die 2 Schüler die übrigens schon 17 waren, ließen mich dort allein stehen. Vor lauter Angst stürmte ich wieder in den Prüfungsraum, aber ich bekam kein Wort raus. Ich zitterte am ganzen Körper und sackte irgendwann in mich zusammen. In dem Moment sahen Lehrer aus dem Fenster, überall war Polizei. Dann trafen die ersten Nachrichten ein, die ersten Telefonate wurden geführt. Nun wusste jeder was in der Schule abgeht und so durfte ich im Raum bleiben. Einige der Jungs verrammelten die Tür mit Schränken. Ich saß total verstört in einer Ecke und eine Lehrerin kümmerte sich um mich. Ständig kamen neue Nachrichten über die Anzahl der Toten. 5 1/2 Stunden versteckten wir uns in dem Raum. Ich hatte abgeschlossen, hier kommen wir nicht mehr lebend raus, er wird uns finden und diesmal wird die Kugel nicht an mir vorbei gehen. Nach den 5 1/2 Stunden pochte es dermaßen an der Tür und alle zuckten, nun hat er uns gefunden, aber dann hörten wir "Hier ist die Polizei, wie viele sind in dem Raum? Gibt es Verletzte? Bleiben Sie ganz ruhig, wir holen Sie da raus." Erleichterung machte sich breit, die Tränen floßen in Massen. Nach einer weiteren halben Stunde war es dann soweit, die Polizei holte uns aus dem Raum. Panik, denn die Polizisten waren schwer bewaffnet und das machte mir erneut Angst. Sie führten uns durchs Haus in die 1. Etage. Auf dem Weg in den anderen Raum sah ich 5 weitere tote Lehrer, das riss mir den Boden weg. Nun musste ich weiter 1 1/2 Stunden in den Raum warten bevor die Polizisten jeden rausbrachten. Ich war an dritter Stelle dran, wir wurden zur Turnhalle gebracht, auf diesem Weg sah ich nochmal 2 tote Menschen. In der Turnhalle wurden wir erstversorgt. Dort traf ich auch die 2 Schüler wieder, die mir das Leben gerettet haben. Ich wurde in den Krankenwagen gebracht und dann auf den nahegelegenden Sportplatz gebracht. Dort wurden meine Eltern gesucht, die aber nicht da waren. Niemand war da, also wurden sie telefonisch informiert, dass ich ins Krankenhaus gebracht werde. In der Klinik nach einer Stunde kam dann mein Vater, anstatt mich in den Arm zu nehmen, fragte er mich aus. Es war wohl ein Kick für ihn. Ich durfte am selben Abend wieder mit nach Hause. Dort saß meine ganze Familie mit Alkohol vor dem Fernseher und schauten Nachrichten. Ekelhaft sowas, ich verzog mich aufs Zimmer und wollte niemanden sehen und erst recht nicht reden. Die nächsten Tage waren furchtbar. Ich wurde allein gelassen mit all dem. Für meine Familie war es so, als wäre nichts passiert und ich, ich stand noch unter Schock und da kam mir auch zum erstem Mal der Gedanke, "Hätte die Kugel mich doch getroffen, dann hätte ich es hinter mir". Ich verließ das Haus nicht mehr, erst zur Trauerfeier wieder. Ich habe nie wirklich getrauert. Eigentlich wollte ich zur Beerdigung meiner Kunstlehrerin, aber ich war nicht in der Lage dazu. Ich habe dieses Ereignis bis heute nicht verarbeiten können. Ich war 3 mal in einer Traumaklinik um dieses Thema zu verarbeiten, mit wenig Erfolg. Es hätte damals etwas passieren müssen, aber da wurde ich allein gelassen, ich war 12 und musste mit sowas ganz allein umgehen lernen.

  • Woah... Mir fehlen gerade ganz ehrlich die Worte! Wie furchtbar! Es tut mir unglaublich leid, dass du das erleben musstest.

    Aber wieso hast du damals keine Hilfe bekommen? Gab es damals denn keine Psychologen, die die Schüler betreut haben nach so einem Vorfall?

    Warst du in der Zwischenzeit denn mal am Grab deiner Kunstlehrerin? Zum Trauern ist es nie zu spät.

    Wie gesagt, ich weiß gar nicht so recht, was ich sagen soll... Fühl dich einfach mal lieb in den Arm genommen!

  • Hallo Seelenschmerz,

    toll, daß Du drüber reden kannst.
    Ach mensch...da musst du dich ja zuhause gnadenlos alleine gelassen gefühlt haben, nach dem Horror-Erlebnis. Das glaub ich gerne, daß da so völlig unglückliche Gefühle aufkamen.

    Warst Du danach mal bei dem Grab der Kunstlehrerin?

    UNd konntest ihr in der Familie darüber reden, wie verloren und verlassen du dich mit dem Umgang gefühlt hast?

    Mensch, ich bin ja leider keine Psychologin, sonst würde ich dir gerne mit mehr hilfreicher Unterstützung zur Seite stehen...nun weiß ich einfach nicht, was sinnvoll ist.

    Fühl dich mal in den Arm genommen, wenn Du magst.

    LG Wolke

  • Das Thema war zu Hause nie wieder zum Thema gemacht wurden. Für meine Eltern stand fest, dass ich ein Weichei war und das es doch eigentlich gar nicht so schlimm war. Ich durfte mir dann Sätze wie "Hab dich nicht so, lebst ja noch" oder "naja zumindest kann die eine Lehrerin sich nicht mehr bei uns einmischen" anhören. Unterstützung konnte von zu Hause noch nie erwarten, meine Eltern sind selber Täter.

    Doch es gab damals ganz viele Psychologen die sich um die Schüler gekümmert haben, aber sie konnten nur Leute betreuen die auch da waren. Die erste Zeit trafen sich alle Lehrer und Schüler im Rathaus und dort wurde man auch betreut. In der Ersatzschule wo wir nun waren gab es auch psycholog. Betreuung, aber ich war weder im Rathaus noch in der Schule anwesend. Naja also einmal war ich schon in der Schule, da hatte ich auch ein Gespräch, aber danach habe ich versucht aus dem Fenster zu springen und wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Und von der Klinik aus, habe ich einen Schulwechsel gemacht und nach der Klinik gab es keine Weiterbetreuung. Ich habe gelernt es zu verdrängen, hab es unterdrückt mit Alkohol, Drogen und Medikamenten. Außerdem gab es eine Traumatisierung die über Jahre stattfand und die hat mich abgelenkt, so schrecklich wie das auch klingt. Erst 2007, als wir in der Schule ein Buch "Give a boy a gun" lesen mussten, brach es wieder aus. Ich habe mir dann Hilfe gesucht und wurde wieder in die Psychiatrie eingewiesen. In der Klinik gab es auch ein Angehörigengespräch wo das thematisiert wurde und da haben meine Eltern total abgeblockt und es runter gespielt. Sie sind auch der Meinung, ich hätte es nicht anders verdient.

    Ich war nie am Grab meiner Lehrerin, ich konnte es bisher nicht. Ich bin aus Erfurt weggezogen, weil ich einfach flüchten musste. Ich hatte mir auch mal vorgenommen zu der Schule zu gehen, aber auch das habe ich nicht geschafft. Da kann die Schule von außen noch so verändert sein, die Erinnerung steckt zu tief.

    Freundliche Grüße
    Seelenschmerz

  • Oh mensch Seelenschmerz,

    was für ein MIst! Gerade wenn die Eltern dann solche Sätze sagen!

    Hm...ich bin ja normalerweise überhaupt kein Freund von Distanz zu den Wurzeln, aber in deinem Fall klingt es so, als ob deine Eltern soviel eigenen Mist mit sich rumschleppen, daß sie überhaupt nicht in der Lage sind, Andere überhaupt wahrzunehmen.

    Dieser eine Satz erinnert mich so arg an ein Erlebnis, als ich 12 war. Da war ich in einem Klosterinternat und ein ganz lieber Mensch ist gestorben - Autounfall. Und die Nonne sagte zu mir: "So ist das nun mal mit so liederlichen Menschen!" ...und ich konnte nur denke - was bist Du falsch und schlecht! Und du willst NOnne sein?! Sie hat den Menschen nicht gekannt und redet schlecht über ihn. Sowas ist schon mies, wenn "Normalsterbliche" es machen, aber ne NONNE?! Ne, Ne.......und genau so einen Satz haben deine Eltern über die Lehrerin gesagt - genau die Lehrerin, die dich immer wahrgenommen hat.

    Aber ich denke auch ...es hilft nichts.....wir müssen lernen, irgendwann mal zu verzeihen. Auch wenn sich deine Eltern da ganz schrecklich dir gegenüber verhalten haben. Ist das Bewußtsein, daß sie bestimmt aus Unfähigkeit heraus so gehandelt haben, eventuell ein Trost?

    (Auch das andere Entsetzen kann ich ganz gut nachvollziehen - ich wurde mal in der Arbeit von nem durchgeknalltem Russen mit ner Knarre bedroht - und meine Kollegen haben sich null darum geschert - da dachte ich auch nur: "wat seid ihr scheiße, ich hab grad was total Aufwühlendes erlebt, und ihr tut so, als wenn nichts sei)

    Du bist überhaupt kein Weichei! Solche Situationen sind absolut gruselig - und meine sind ein Puups gegen deine, ich hab's nur geschrieben, um zu zeigen, ich kenn die Sachen im Ansatz.

    Wie ist denn dein Verhältnis zu deinen Eltern jetzt?


    (Und n ochmal ganz klein zur Lehrerin: ich denk auch - vielleichtgibt es ja mal Jemanden, der dich begleiten könnte ans Grab der Lehrerin, allein würd ich nicht hingehen.)

    LG Wolke

  • Eigentlich sollte ich den Kontakt zu meinen Eltern abbrechen, zumindest ist das der Wunsch meiner Thera und Betreuerin was ich sehr gut nachvollziehen kann. Aber ich sehe sie mit anderen Augen, sie sind nicht nur Täter sondern auch Menschen. Und meinen Geschwistern und Freunden gegenüber sind sie wunderbar, nur mir gegenüber halt nicht. Das Verhältnis von meinen Eltern zu mir ist kühl, gefühllos und gewalttätig, das Verhältnis von mir zu meinen Eltern ist treu, hoffnungsvoll und mit Liebe. Ich bin meinen Eltern nicht böse dafür was sie mir antaten. Ich warte immer noch darauf, das sie mich lieb haben und mich vielleicht mal in den Arm nehmen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

    Meine Eltern haben die Lehrerin gekannt mehr oder weniger. Die Lehrerin hat oft zu Hause angerufen, wegen Verletzungen die ich aufwies oder wegen meiner verstörten Art. Meine Eltern fanden sie einfach lästig. Für mich jedoch war sie ein wundervoller Mensch. Sie war lustig und liebenswert und eine ganz kompetente Lehrkraft.

    Irgendwann möchte ich an ihr Grab gehen, vielleicht würde mir das etwas helfen. Vielleicht kann ich auch irgendwann mit dem Ereignis umgehen, es verarbeiten das ist zumindest mein Ziel.

    LG Seelenschmerz

  • Huch, was war denn da bei Euch zuhause los?

    LIeb zu den Geschwistern und gewalttätig zu dir? Du wurdest geschlagen?

    Magst Du ein bisserl erzählen, damit ich mir ein umfassenderes Bild machen kann?

    LG Wolke

  • Da muss ich etwas weiter ausholen. Ich habe 3 Geschwister, einen leiblichen Bruder, einen Halbbruder und eine Halbschwester, alle älter als ich. Ich bin trotz Verhütung entstanden und meine Mutter bemerkte ihre Schwangerschaft zu spät für eine Abtreibung. Ich war nicht erwünscht, ich war verhasst. Das bekam ich schon ganz früh mit. Ich reagierte natürlich sehr kindlich, klammerte und versuchte alles richtig zu machen. Ich wurde immer weggestoßen, Wärme, Geborgenheit, Liebe gab es gar nicht. Was mich daran am meisten traurig machte war, das meine Geschwister genau das alles bekamen, sie wurden in den Arm genommen, sie wurde geliebt, sie wurden gelobt und vorallem sie durftem Kind sein, sie durften sogar Gefühle zeigen. Ich hingegen war das schwarze Schaf, ich durfte nichts und sobald ich Gefühle zeigte gab es Schläge. Das entwickelte sich dann weiter als ich älter wurde. Ich musste nun fast den ganzen Haushalt machen, während meine Geschwister und meine Mutter sich ausruhten oder Spaß miteinander hatten. Mein Vater war nur am Wochenende zu Hause und meistens betrunken und aggressiv. Immer wenn irgendetwas nicht so gelaufen ist wie es sollte, bekam ich jegliche Wut ab und meine Mutter war sehr kreativ was Strafen betraf. So kam es auch, dass ich am Essenstisch saß, allen beim Essen zuschaute, ich aber selbst nichts essen durfte. Mein Geschwister schauten dabei immer nur zu, bei den Schlägen, bei den Strafen. Ich habe mich damit abgefunden, aber ich empfand nie Wut gegenüber meinen Eltern. Das alles machte mich sehr traurig, aber das durfte ich natürlich nicht zeigen.
    Es gab mal einen Vorfall in der Psychiatrie bei einem Angehörigengespräch. Die Therapeutin fragte meine Eltern warum sie mich nicht zur Adoption freigegeben haben, wenn sie mich doch so gehasst haben. Daraufhin kam die Antwort: "Was sollen die Nachbarn von uns denken und außerdem war sie ganz praktisch". Ich musste in dem Moment weinen und die Therapeutin war richtig sauer und geschockt. Ich habe schon mit so etwas gerechnet, den demütigen und beleidigen und verletzen, das können sie gut.
    Viele fragen mich, warum ich immer noch zu meinen Eltern stehe, ganz einfach ich liebe sie und sie sind keine schlechten Menschen. Ich habe die Hoffnung, dass sie sich vielleicht ein Stück verändern werden.

    Das darüber schreiben, macht mich gerade auch traurig und irgendwie hab ich das Gefühl meine Eltern zu verraten wenn ich es offen lege.

  • Liebe Seelenschmerz,

    achje ...was für Verstrickungen! Da wurde dir in der Kindheit ganz früh die Rolle des allgemeines Sündenbocks und Aschenputtels zugeteilt - und du hast sie - ganz entsprechend dem Menschsein - angenommen. Und möglicherweise hat irgendwann mal keiner mehr den Weg raus gefunden.

    Einerseits kann ich deine trotzalledem vorhandene Liebe nachvollziehen - andererseits geht es mir so, wie wahrscheinlich 95 % der Mitmenschen - ich bin sprachlos vor Empörung und Wut auf so ein Verhalten der Eltern.

    Aber du verrätst sie bestimmt nicht. Denn das was ist, darf man sagen. Ich denke, wichtig ist, daß Du für dich Wege findest, trotz dieser Prägungen, Lebensfreude und Selbstwertgefühl zu haben und zu leben.

    Wie geht es denn Dir jetzt in deinem Alltag?
    Wie lebst Du denn?

    LG Wolke

  • Ich sollte mal mit einem Wort beschreiben wie ich meine Eltern sehe. Ich hatte zwei Antworten: ohne Gefühle lautete die Antwort "sie sind Monster", mit Gefühle lautete die Antwort "sie sind wundervoll". Es ist ein hin und her und es kommt auch darauf an wie viel Kraft ich habe. Meine Eltern leben in mir, all die Strafen die ich bekam füge ich mir mittlerweile selbst zu, all die Einstellungen die sie über mich haben, habe ich übernommen. Mein Selbstbild: ich hasse mich so dermaßen, ich bin wertlos und ein Stück Dreck.

    Ich lebe nun in einer eigenen Wohnung in einer anderen Stadt. Ich bin 2009 geflüchtet, ein Grund war, dass ich endlich Schutz vor meinen Eltern haben wollte, ein Grund war, dass ich nicht mehr in der Stadt leben wollte wo der Amoklauf war und der Hauptgrund war, dass ich einen über Jahre andauernden familiären sexuellen Missbrauch beenden wollte.

    Im Alltag komme ich unterschiedlich gut klar. Haushalt ist für mich kein Problem, den mache ich gerne. Aber ich habe oft Schwierigkeiten mit dem Einkaufen, dem regelmäßigem Essen, dem Rausgehen. Durch Flashbacks und anderen Symptomen bin ich auch ziemlich eingeschränkt. Beruflich passiert gar nichts und soziale Kontakte habe ich außer Thera und Betreuerin niemanden, naja außer meiner Familie telefonisch.

  • Schön, daß Du hierhergefunden hast!

    Hast Du schon mal dran gedacht, daß Du hier auch ein Postfach eröffnen könntest. Da ist dann Platz für alles mögliche, für Verarbeitung und ebenso für ganz erfreuliche Nachrichten. Jetzt sind wir ja auch schon ganz schön abgeschweift vom ursprünglichen Anliegen.

    Am Ende traut sich keiner mehr was zu Thema Trauma-Verarbeitung zu schreiben, weil wir jetzt schon so weit in deine "Herkunft" eingetaucht sind.

    Es ist bestimmt ein sehr schwerer Weg, dich da von all diesen Prägungen zu befreien. Stück für Stück. In kleinen Schritten.

    LG Wolke

  • Ich besitze eine Gedenkecke wo Bilder von meiner Oma und meiner besten Freundin hängen. Dort zünde ich jeden Tag eine Kerze an, setze mich davor und rede mit den beiden. Das hilft mir sehr mit dem Verlust klar zu kommen. Vielleicht wäre es gut, wenn ich diese Gedenkecke auch für die Opfer des Amoklaufes nehme. Vielleicht hilft es mir in dem Punkt auch.

    Was meint ihr, könnte das gut sein oder wäre das eine zu heftige Konfrontation? Ich bin mir gerade sehr unsicher.

  • Ich denke, einen Versuch wäre das auf alle Fälle wert! Wenn du merkst, es wird zu heftig, kannst du die Ecke ja wieder abbauen! Aber ansich finde ich das eine gute Idee!

  • Ohje, das war bestimmt ganz furchtbar schrecklich, bei soetwas mit dabei sein zu müssen.

    Ich persönlich finde aber das Verhalten deiner Eltern, speziell bei diesem Fall, als auch insgesamt bedeutend schrecklicher, und kann absolut nicht nachvollziehen, was du von denen noch erwartest?

    Das ist auch keine Frage von schlechten Menschen oder nicht, sondern einfach von schlechtem Verhalten. Klar hat jeder seine Probleme und sein Säckerl mit sich rumzuschleppen, was aber nicht heißt, dass ich hinnehmen muss, dass man mich schlecht behandelt.

    Meiner Meinung nach, ist die Hoffnung die du mit deinen Eltern da verknüpfst einfach nur naiv und hat etwas von Selbstkasteiung... warum sollten sie denn plötzlich einen liebevollen Umgang mit dir pflegen? So mir-nichts-dir-nichts ändert sich niemand von heute auf morgen.

    Wenn ich an deiner Stelle wäre, und einem beinahe endlosen Alptraum entflohen wäre, würde ich die mit dem Arsch nicht mehr anschauen und wäre furchtbar wütend. Ich persönlich empfinde ja eine gehörige Portion Wut als bedeutend bessere Basis, mit der man auch besser arbeiten kann.

    LG
    WbD

  • Das ist nicht so einfach. Es sind meine Eltern. Ja vielleicht bin ich naiv und auch dumm, ich erwarte auch nicht, dass sie mich liebevoll behandeln. Mir würde es schon viel bedeuten, wenn sie mich neutral behandeln.

    Hab meine Gedenkecke jetzt erweitert und habe schon eine Kerze angezündet. Das war echt schwierig. Ich werde mal die nächsten Tage beobachten ob es gut für mich ist.

  • Zitat

    Das ist nicht so einfach. Es sind meine Eltern. Ja vielleicht bin ich naiv und auch dumm, ich erwarte auch nicht, dass sie mich liebevoll behandeln.

    Naiv hat nichts mit dumm zu tun. Das würde ich nie schreiben. :smiling_face: Auch, weil bei dieser Angelegenheit Dummheit überhaupt keine Rolle spielt.

    Ach weißt du, ich kann das so einfach schreiben, weil ich dieses "Aber es sind doch immerhin meine Eltern"-Geplänkel auch viele Jahre mit meinen Erzeugern gespielt habe. Ich musste da beileibe keine ähnlichen Verletzungen ertragen wie du das musstest, kann dir aber versichern, dass meine ungerechtfertigten Hoffnungen nur den Weg zur nächsten Enttäuschung ebneten, und mir die Opferrolle ganz gut zu Gesicht stand. Jaja, ist doch das einzige Stück Familie was ich so habe... etwas Ähnliches habe ich die letzten Monate gerade noch einmal mit meinem Bruder durchgespielt, und unter absolutem Unwohlsein, Drama und Uneinigkeit mit mir selbst die entsprechenden Konsequenzen gezogen.

    Ich bin seinerzeit mit einer Scheißwut in die Therapie gegangen und habe mit meinem kompletten Umfeld einen radikalen Bruch vollzogen, um mich anschließend wieder an jene annähern zu können, bei denen ich das wollte und konnte, und dieses Mal auf einer anderen Basis. Sind nicht viele übrig geblieben, und das war und ist auch gut so.
    Die Position des Opfers ist eine ganz bequeme, und vor sich selbst eine wunderbare Ausrede für allerlei Sachen. Das man dafür auch Täter in seinem Umfeld braucht, ist mir damals schmerzlich bewusst geworden.

    Zitat

    Mir würde es schon viel bedeuten, wenn sie mich neutral behandeln.

    Und? Was wäre denn dann? Was würde das ändern, und wie sähe denn Neutralität aus? Wie muss ich mir das denn vorstellen und was wünschst du dir denn wirklich von denen?

  • Ich habe den Kontakt zu ihnen eingeschränkt und durch den Umzug besteht der Kontakt hauptsächlich über das Telefon. Jeder sagt mir, ich soll den Kontakt abbrechen, meine Thera, meine Betreuerin, meine Ärztin. Ich kann es aber nicht so einfach. Vom Kopf her weiß ich das alles, ich weiß auch, dass sich wahrscheinlich nie eine gesunde Beziehung entwickelt. Ich weiß auch, dass ich eigentlich Wut empfinden müsste, aber mein Gefühl ist anders. Ich hänge gefühlsmäßig an meinen Eltern und ich bin nicht wütend auf sie. Ich arbeite an mir und vielleicht wird durch meine Schritte dieser Bruch kommen, wer weiß. Ich habe sonst niemanden außer dem Therapeutennetzwerk.

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