ADHS und Ritalin

  • Hallo,

    zwar ist ADHS für die Betroffenen sehr anstrengend und stressig, aber dennoch gibt es ja ganz unterschiedliche Meinung, ob und wozu es therapiert werden soll.

    Ein ganz interessanter Artikel dazu:

    Ritalin gegen ADHS: Wo die wilden Kerle wohnten - Inland - FAZ

    Ich selber denke auch, daß gerade die unterschwellige Message: "So wie du bist, bist du nicht ok" fatal ist. Da wird dann zwar ein Symptom behoben, aber ein neues geschaffen - und wozu?

    LG Wolke

  • wow krass. ich hab mich mit dem thema vorher nie wirklich beschäftigt aber der artikel is schon heftig. meiner meinung nach sollte da einiges mehr an aufklärungsarbeit betrieben werden. das is wirklich heftig.

  • Das ich mich als Betroffener zu Wort melden würde, war ja wohl abzusehen. Ich warne gleich vor: Im Folgenden geht es reinweg um meine ganz persönliche Meinung, und ich schreibe aus einer emotionsgeladenen Perspektive.

    Ritalin vs. Drogenvorwurf
    Ich habe es satt!!! Die Gleichsetzung von Ritalin (Wirkstoff Methylphenidat == MPH) mit Kokain ist so gesehen nicht nur gänzlich falsch - wenn schon, müssten wir über Amphetamine reden - sondern auch Polemik der unterirdischsten Couleur, die auch nicht an Wahrheit gewinnt, nur weil man sie Jahr um Jahr gebetsmühlenartig unters Volk streut.
    Es ist lächerlich: Ich besitze mit allen vergleichbaren Stoffen in unterschiedlichsten Dosierungen und Konsumformen so meine Erfahrungen. Sorry, aber MPH taugt einfach nicht zu einem Missbrauch im Sinne eines Rauschmittels. Keine Euphorie, keine guten Gefühle, keine entaktogene Komponente... nichts. Viele Betroffene beschreiben die Wirkung eher als unangenehmes Übel.
    Vielen Dank, aber Betroffene können gelinde gesprochen einen Scheißdreck dafür, wenn leistungshungrige Akademiker sich das Zeug im Rahmen ihrer Lernsessions wie Smarties einwerfen, oder es unter den (gerade gesellschaftlich besser gestellten) Eltern ein paar faule Früchte gibt, die mit ihren Kindern nichts anderes als schlichtweg Doping betreiben: Stichwort Neurobooster.

    Psychisch abhängig... ja klar, das kann ich sogar noch nachvollziehen. Wer einmal die Erfahrung macht, wie einfach es ist, sich nahtlos in die kaputte Gesellschaftsstruktur einzufügen, wenn man sich regelmäßig ein kleines Pillchen einpfeift, nimmt seine normale Daseinsform plötzlich weitaus defizitärer und anstrengender wahr. Das mag sein. Aber sorry: meiner Definition von psychischer Abhängigkeit entspricht das keineswegs.
    Viele mit MPH Behandelte legen regelmäßig Medikationspausen ein, gönnen sich Freiräume wo sie nur können, und probieren die Dosierung so gering wie nur irgend möglich zu halten. Die Meisten probieren in regelmäßigen Abständen komplett ohne klar zu kommen, scheitern aber oft einfach an den sich wieder einschleichenden desolaten Zuständen: Sei es nun die wieder aufflammende Bedrohung von Seiten des Arbeitgebers, die im Chaos versinkende Wohnung, oder der stetig anwachsende Schuldenberg, weil es quasi unmöglich ist, sich um den behördlichen Papierkram zu kümmern.
    Verzeihung, aber einem Psychotiker wirft man auch nicht vor, dass er sich wieder Neuroleptika verordnen lässt, weil er mal wieder anfängt, Stimmen zu hören.

    Drogenabhängigkeit ist neben Depressionen und auch Delinquenz eine der häufigsten Komorbiditäten bei AD(H)S. Zahlreiche Studien konnten belegen, dass durch eine Medikation das Risiko in dieser Hinsicht tatsächlich sinkt. Pff... ich habe selbst jahrelang Selbstmedikation betrieben. Komisch, als mir klar war, warum ich das mache, und man mir Medis (wohlgemerkt keineswegs Ritalin, sondern einen NARI) gab, war schlagartig Schluss damit. Hält jetzt schon ein halbes Jahrzehnt gänzlich ohne Rückfall an. Einfach so, von einen Tag auf den Anderen.

    Allein die Überschrift gibt den folgenden Artikel der Lächerlichkeit preis, haben die Autoren wohl mal wieder etwas zu viel ferngesehen, und sind dabei über eine unlängst auf 3sat, wohlgemerkt mitten in der Nacht, ausgestrahlte Doku gestolpert, die den klangvollen Namen "Wo die wilden Kerle wohnen" trägt. Zumindest scheinen die Schreiberlinge ob der nachtschlafenden Zeit wohl die Quintessenz des Ganzen - eigentlich eher die Pointe, so man denn will - verpasst zu haben. Das Projekt bestand darin, dass eine größere Gruppe hyperaktiver Jungen 6 Wochen auf einer Alm einen etwas alternativen Lebensansatz lebten. Die Hoffnung war, dass sich die gemachten Erfahrungen in das weitere Leben integrieren lassen würden. Der Erfolg war mäßig bis nicht vorhanden. Schon wenige Wochen nach Projektende waren ein paar der Kinder schon wieder auf Medikamente eingestellt, ein anderer war auch in seiner neuen Bildungsanstalt abermals von einem Schulausschluss bedroht. Interessant war dennoch, dass sich die Gruppe innerhalb der veränderten Lebenssituation prima entwickelte, und viele Problemfelder verblassten. Aber was nutzt es? Weder können wir alle als Freigeister auf einer Alm leben, noch uns den überindividuellen gesellschaftlichen Zwängen entziehen.

    Lächerlich ist auch der Hinweis, dass die meisten Kinder reinweg medikamentös therapiert werden. Einerseits fehlt es an Fachpersonal, welches auf ADHS und die besonderen Erfordernisse im Umgang spezialisiert ist, andererseits fehlt es schlichtweg überhaupt an den notwendigen Kapazitäten.

    Zitat

    Ich selber denke auch, daß gerade die unterschwellige Message: "So wie du bist, bist du nicht ok" fatal ist. Da wird dann zwar ein Symptom behoben, aber ein neues geschaffen - und wozu?

    Ach, und dazu brauch es jetzt die Medikation? Ganz ehrlich: Diese Botschaft wird von Seiten der Lehrer, des Schulwesens und der Mitschüler ganz unverblümt offen kommuniziert. Und ja, so ein Zwangsbesuch beim Schulpsychologen vermittelt viel besser, dass man okay so ist, wie man ist. :winking_face:
    Na klar ist das Label "AD(H)S" nichts Schönes, aber die bisher üblichen Etiketten "Schulversager", "faules Schwein", "Sonderschüler" sind wohl besser? Gerade hinter dem Label "faul" steht nichts Anderes als der Vorwurf einer Charakterschwäche, so als könne der Betroffene das nach Belieben ändern, so er denn nur wollte. Tschuldigung, aber wer schon einmal hyperaktive Schüler in ihrer Freizeit beobachtet hat, kann zwangsläufig nicht auf den Gedanken der Faulheit kommen. Wie auch, wenn eines der augenfälligsten Merkmale permanente Agitiertheit ist?

    So oder so: in den Tretmühlen der modernen Gesellschaft sieht sich jeder Betroffene zwangsläufig mit einem "So wie du bist, bist du nicht ok" konfrontiert. Wie oft habe ich selbst gehört: "Du musst dich nur konzentrieren!" Irgendwann lautet die Antwort mal: "Ach, und was glauben Sie, was ich hier gerade probiere, du dummes Schwein!" "Du kommst jetzt sofort mit zum Direktor/Chef/blablabla!" "Dem kann ich auch gern die Schnauze einschlagen, so wie dir das gleich passiert!" Und warum so viel Jähzorn? Ganz einfach: Weil man es nicht mehr hören kann, weil man sich abmüht, strampelt und einfach nicht in dieser Form arbeitet, wie das die Welt gern hätte.

    Derartige Artikel klingen in den Ohren eines Betroffenen einfach nur wie ein schlechter Scherz. Als hätte man es in der Hand. Als würde man nur nicht stark genug wollen!

    Und noch viel besser: "Die Gesellschaft ist schuld!"
    Na klar doch... da rennt man offene Türen ein. Klar ist die Gesellschaft schuld. Die Ödnis des postpostmodernen Lebens, in welchem stereotypes Funktionieren zum Nonplusultra verklärt wird, und der Einzelne seinen Dienst gefälligst automatenhaft, streng nach Vorschrift herunterspulen soll. Vorbei ist die Zeit, in der es enthusiastischer Visionäre bedurfte, die jegliche Gefahr ignorierten und aus einem Spleen heraus mal einfach versuchten, den Seeweg nach Indien zu finden, mit Trekks gen amerikanischem Westen aufbrachen, oder sich mit Papier und Stift bewaffnet in die unbekannten Wagnisse eines fremden Regenwaldes stürzten. Heutzutage sollte man für derlei Unternehmungen zumindest einen Doktortitel haben, das Projekt jahrelang geplant haben, und sich mit allerlei Formalien auseinandergesetzt haben. Dazu bedarf es eines langen Atems, eine gehörige Portion Konzentrationsvermögen und beharrlicher Kontinuität.

    Aber:
    Erstens haben nur die Wenigsten von uns eine Wahl. Dies ist nun einmal die Gesellschaft, in der ich leben muss, in und mit der ich auskommen muss. Ich kann nicht erwarten, dass sich ein gesellschaftlicher Wandel einstellt, nur weil es da eine Minderheit gibt, die damit ein Problem hat.

    Auch als Elternteil kann ich nicht einfach darauf scheißen, was schulisch wird und passiert. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der schulische Minderleistungen beinahe so etwas wie ein kleines Todesurteil sind. Wenn wir auch noch vor 30, 40 Jahren einer gewissen Masse unqualifizierter Arbeiter bedurften, die "niedere" Tätigkeiten verrichten konnten, entspricht das heutzutage einfach nicht mehr der Realität. Nirgendwo herrscht größerer Stellenmangel als im Sektor der Unqualifizierten.
    Gleich noch ein anderer Aspekt: Wie willst du mir verkaufen, dass ich mich gefälligst mit einem Fließbandjob zu arrangieren habe, wenn ich das berechtigte Empfinden habe, eigentlich Potenzial zu ganz Anderem zu haben? Verzeihung, aber je nach Messung habe ich persönlich einen IQ zwischen 142 und 151 (jaja, der blöde Angeber, blabla) und fühle mich bei derart stupiden Tätigkeiten derart deplatziert, dass ich noch an Ort und Stelle am liebsten Selbstmord beginge. Und ja, ich habe schon Derartiges ausprobiert. Die Anzahl meiner verschiedenartigsten Tätigkeitsfelder kann ich schon mit 29 nicht mehr mit beiden Händen abzählen. In der Fachliteratur wird wiederholt von Fällen berichtet, die es binnen von 2 Jahren auf utopische Zahlen wie über 100 verschiedene Jobs bringen, und Dinge in dieser Art.

    Zweitens habe ich ein noch viel größeres Problem damit, wenn man mich zu einem mittlerweile unnützen Relikt aus vergangenen Zeiten degradiert, als wenn man mir das Label "Krank!" aufdrückt.
    Ist ja wunderbar, wenn ein Thom Hartmann ein romantisch verklärtes, wenn auch sympathisches, Bild zeichnet, dass die Menschen in zwei grundlegende Gruppen "Farmer" und "Jäger" einteilt, und ich mich jetzt als direkter Abkömmling der, ach so tollen und wichtigen, Jäger sehen darf.
    Klar, mal angenommen, diese Zweiteilung hätte es in dieser Form gegeben - wofür sich keine Belege finden lassen - und die "Farmer" hätten entsprechend seiner Ansicht tatsächlich "gewonnen": Was wäre denn dann? Was ändert das an meiner persönlichen Lebensrealität? Soll ich mir jetzt einen Speer schnitzen, und probieren im nächstgelegenen Wald in einer Höhle zu hausen? Wenn ich Pech hätte, endete dieser Versuch entweder vor Gericht wegen Landfriedensbruch oder ich könnte Einen auf "Einer folg übers Kuckucksnest" machen.
    Klar, ein Fünkchen Wahrheit mag wohl dahinter liegen, habe ich mich doch nur während zwei kurzer Episoden meines Lebens wirklich glücklich gefühlt: Während meiner Zeit bei der Bundeswehr (hier vor allem während der Grundausbildung und deren ganzem "Jägergespiele") und während meines Aufenthalts in einer Psychiatrie, der auch Tag für Tag irgendeinen Kick mit sich brachte.
    Nun, angenommen, ich wäre ein steinzeitliches Relikt, ein deplatzierter Anachronismus? Was dann? Wo lägen meine Alternativen? Freiwilliges Frühableben? So in der Form, wie man ein fehlgefrästes Bauteil aussortiert, was pardout nicht recht in die sorgsam erdachte Maschinerie passen will?
    Oder soll ich verzweifelt auf den nächsten Krieg warten, den ich aus ethisch-moralischer Sicht ablehne, nur um dem Rest der Welt endlich mal eine Situation vor Augen zu führen, in der ich einen natürlichen Vorteil habe, in der mir meine offenen Reizfilter zu Gute kommen?

    Klar, man könnte sich auch in ein Leben mit Hartz4 reinarrangieren, jedenfalls so lang es das noch gibt... das ist den feinen Herrschaften dann aber auch wieder nicht Recht.

    Na, das sind ja schöne Aussichten.

    Alles klar, natürlich sind gleich 90% der ADHS-Diagnosen falsch
    Da sitzt man ein paar Monate in der Psychiatrie, wird Test um Test unterzogen... Konzentrationstest, Beurteilung der kognitiven Leistungsfähigkeit, zwanzigtausend Frageböge, Arztgespräche, Therapeutengespräche, körperliche Differentialdiagnostik, EEG, und was nicht Alles. Nach zermürbenden zwei Monaten bekommt man dann gesagt, dass man quasi ein Paradebeispiel für eine ADHS sei, bekommt ein Medikament, und plötzlich ändert sich schlagartig so viel des quälenden Lebens.
    Pff... manch einer ist gerade zwei Mal bei einem Psychiater vorstellig geworden, und hat ganz plötzlich Borderline, Depressionen, Burnout, und muss sich auch nicht jahrelang mit allen möglichen Vorwürfen rumschlagen. Wunderbar... seit gut einem dreiviertel Jahr hat in Deutschland MPH eine Zulassung zur Behandlung von Erwachsenen. All die Jahre vorher hat der größte Betroffenenteil sogar seine Medis selbst bezahlt, und dass nicht selten von Hartz4 oder BAföG.

    Natürlich kann mit den Quoten bei Kindern irgendetwas nicht stimmen. Sehe ich auch so... aber einfach mal die unverschämte Zahl von 90% aus dem Raum zu greifen, ist schlichtweg Irrsinn, und ein Schlag ins Gesicht derer, die eine profunde Diagnostik durchlaufen haben.

    Mädchen werden wieder einmal vier Mal weniger diagnostiziert
    Erstens ist das nicht mehr ganz aktuell, und zweites liegt das einfach am Umstand, dass Mädchen seltener körperlich auffällig werden, sich eher als "Traumsuse" klammheimlich aus dem Geschehen verabschieden. Klar ist das nicht auffällig, wenn man nicht gerade die Schulnoten ins Visier nimmt, und sich ein Fachmann Betreffende ganz genau zur Brust nimmt.

    Ja klar wird jungenhaftes Verhalten immer weniger toleriert. Wen wundert es denn? Männliche Kindergärtner sind die Ausnahme, bei Grundschullehrern siehts nicht viel anders aus. Wer mich kennt, weiß, dass ich keineswegs ein Chauvie bin, aber: wir leben zunehmend in einer gottverdammten Weiberwelt. Es geht nur noch um Ordnung, um Sicherheit, um Stabilität... klassisch weibliche Werte. Wo bleiben Abenteuersinn, Risikobereitschaft, Verspieltheit?

    Und nun fragt mich noch einmal, warum die Gesellschaft im Gegenzug dazu immer gewaltbereiter wird, Hooligan-Fanblocks schon nicht mehr die Ausnahme, sondern eher die Regel sind! Jeder sieht doch nur zu, sich irgendein befreiendes Ventil zu suchen.

    Meine ganz persönlichen Erfahrungen
    Die Grundschule war eine blanke Folter: Ich bedurfte dieser Institution nicht, konnte Lesen, Schreiben, Rechnen, habe seit der 3. Klasse selbstständig vermittels auf einem Dachboden ausgegrabener Lehrbücher Englisch gelernt, und hatte noch vor Schulantritt einen Bibliotheksausweis. Auf der anderen Seite standen natürlich ständige Ermahnungen: "Sitz still!; Schwatze nicht! Mach endlich mal Hausaufgaben!...." Verhalten immer "4", regelmäßiges Vorzitieren beim DDR-üblichen wöchentlichen Schulappell und mäßige schulische Leistungen, weil gelangweilt. Während meiner Pausen war ich damit beschäftigt, mich dem Zugriff meiner "normalen" Mitschüler zu entziehen, die die Angewohnheit pflegten, sich zusammenzurotten und mir gemeinschaftlich ans Leder zu wollen, hatte ich doch den Vorteil einer gewissen körperlichen Präsenz, und wusste mich gegen ein bis zwei durchaus zu erwehren. Ist bei weitem nichts Ungewöhnliches: ADHS-Kinder avancieren ganz oft zum Blitzableiter innerhalb Klassensysteme.
    Kurzum: Noch vor Ende der Grundschule war ich fertig... fertig mit Schulzwang, fertig mit Gleichaltrigen, hatte nie eine Lernkultur erlernen können, und versank mehr und mehr in meiner eigenen Parallelwelt. Ich sollte nie mehr zu einem wirklich guten Schüler werden. Die gesamte Welt erschien mir wie Feindesland, jegliche Anforderung von außen nur dazu da, um mir das Leben so unangenehm wie möglich zu machen.
    Meine Freizeit hingegen war übervoll von Projekten aller Art. Ich programmierte, berechnete und baute Amateurfunkantennen, las wie ein Blöder. Ab meinem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr ging ich neben der Schule täglich als Bauhelfer arbeiten und ersparte mir so, im Altersmaßstab, ein kleines Vermögen. Später entdeckte ich dann, Gott sei Dank, die Drogen, wofür all mein Erspartes wieder draufgehen sollte. Aber wenigstens war erst einmal die permanente Suizidalität passè.
    Irgendwann runter vom Gymnasium, noch schnell ein Jahr Realschule drangehangen, wegen Fehlzeiten fast von der Schule geflogen, aus dem Stand einen guten Abschluss geschrieben. Dann folgten etliche abgebrochene Lehrstellen, etliche Arbeitsstellen, Arbeitslosigkeit... letztlich hatte ich nur drei Dinge in meinem Leben:
    die unglaubliche Fülle an privaten Projekten und Interessen, die Drogen, und eine stabile Partnerschaft.

    Ja, ich bin betroffen, habe mir allerlei Anfeindungen anhören müssen, mir sonstwelche Vorwürfe auftischen lassen müssen, habe jahrelang verzweifelt gestrampelt, probiert, mich zu zwingen, habe mich gefragt, was mit mir nicht stimmt, bin verzweifelt, habe resigniert und das ständige Gefühl auf der ungeliebten Welt eigentlich nichts verloren zu haben.
    Ach, zu viel, und zu komplex, und zu uninteressant, um das alles im Detail darzulegen.

    Ich kann nur Eines sagen: Es ist verdammt schade, dass ich meine Diagnose so spät bekommen habe. Man hätte mich mit Ritalin vollpumpen sollte, bis mir die Ohren qualmen. Dann wäre ich heute mit großer Wahrscheinlichkeit nicht der jammernde Nichtsnutz, der aus dem "Jungen mit so viel Potenzial" (O-Ton diverse Erwachsene, Erzieher, Lehrer während meiner Kindheit) geworden ist.

    Und heute? Ja nüscht heute. Bisweilen stimmt mich mit dem Leben eigentlich nur versöhnlich, dass es zwangsläufig endlich ist, und wenn der Zufall gnädig ist, mir ein baldiges Ableben beschieden ist. Dann möchte ich mit dem Gesicht nach unten beerdigt werden, so dass mich die ganze ungeliebte Dreckswelt mal am Arsch lecken kann.

  • Hallo WbD,

    du stellst jetzt aber doch genau nur die Alternativen

    Vollgpumpt oder weggemobbt in den Raum und genau das finde ich so beknackt. Es kann doch nicht das Ziel sein, alles was stressig und anders ist, gleichmachen zu wollen. Genau das ist doch das Problem.

    Das Eine ist nicht besser, als das Andere. Beide Möglichkeiten sagen nur: Du bist nicht so, wie du sein sollst.
    Und für mein Empfinden ist genau dies, eines der großen Probleme unserer derzeiten Philosophie. (bzw unserer fehlenden Philosophie)

    Wir leben in so sonderbaren Gesellschaftsmodellen, in denen kaum unter die Oberfläche geschaut wird, und alles, was nicht passt, wird angepasst.

    Ich selber wünsche mir einfach, daß viel mehr Eigenheiten akzeptiert werden. Ja glaubst du denn, daß meine Schulzeit viel besser aussah? Als jüngste von Fünfen ist mein IQ zwar noch weit weg von deinem, aber seit ich den Mensatest gemacht hab, hab ich zumindest dies VErtrauen in mich gewonnen, daß es nicht Blödheit ist, die macht, daß ich anecke. Mein Anecken kommt aus mir. (und auch Prägung - aber da ist auch Charakter dabei - und das heißt nun nicht, daß dies eine Wertung sein soll. Es heißt weder "guter" noch "schlechter")

    Es war für mich ne verblüffende Erfahrung auf dieser Hütte (und es ist ja witzig, daß dies Experiment auf einer Alm stattfand) zu sehen, daß Menschen doch etwas entspannter mit den Ecken umgehen können. Dort gab es zwar auch grauslige Rituale, aber dennoch hab ich den Eindruck, daß weniger über die Menschen gewertet wurde - vielleicht weil Menschen an sich weniger im Fokus stehen. Sie sind doch nicht soo wichtig. Die Natur hat einen anderen Stellenwert und der Mensch ist darum sowieso nicht sehr weit vorne in der Skala.

    All deine Fähigkeiten - was weiß ich - Krisenmanagment oder irgendetwas, wo es Sinn macht, schnell eine Situation zu erfassen, und handeln zu können, werden in den normal üblichen Jobs wenig gefördert bzw es gibt nur wenig Jobs, die überhaupt geeignet sein könnten. Und ich denke doch, daß dieses starke Werten und Anpassen an die "Vorgaben der Leistungsgesellschaft" dem Vorschub leisten.

    Aber ich wettere ganz allgemein gegen die, für mein Empfinden viel zu, schnelle Diagnose von Krankheit. Und den Anspruch Krankheit weghaben zu wollen.

    Und das passiert für mein Empfinden ganz stark in den Köpfen vieler Menschen der Industrieländer. Wenn Du nicht funktionierst, wie es gut passt, dann gibt es einen Grund, eine Ursache, die man dann schnell mal Krankheit nennt.

    Ne, mein Freund hat viel von nem Aspie - und auch das wird als "Krankheit" gehandelt! Das ist doch keine Krankheit! Und so wie ich dich hier wahrnehme - du bist doch nicht krank! Du denkst schneller. Also bist du besonders.
    Und du wirst besondere Bedingungen brauchen, um dich in all deinen Fähigkeiten und Talenten wohl zu fühlen.

    Aber das ist doch alles nicht Krank!

    Darum dreh doch mal das Bild ein wenig von der "derzeitigen Realität" zum "Was könnte auch sein?" und wenn dann dieselben Eigenschaften plötzlich ganz anderes angesehen werden, dann weißte doch, daß es nur ein Menschenkonstrukt ist, was hier an "Diagnosestellung" passiert.

    Das heißt nun nicht, daß es für dich schön ist, besonders zu sein. Ne, ganz bestimmt nicht. Aber du wirst es halt aushalten müssen. Ich bin ich auch nicht so normalkompartibel, aber ich muss es aushalten. Fertig aus. So ist es halt.
    hat ja keiner gesagt, daß das Leben mit sich selber immer schön ist. Aber deswegen ist doch nicht alles gleich KRANK.

    Immer dieses: Du bist krank, du musst kuriert werden!

    Aber auch bei mir - alles nur mein Senf und meine Gedanken dazu - selbstverständlich kein Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit.

    LG Wolke

  • Liebe Wolke,

    Zitat

    Darum dreh doch mal das Bild ein wenig von der "derzeitigen Realität" zum "Was könnte auch sein?" und wenn dann dieselben Eigenschaften plötzlich ganz anderes angesehen werden, dann weißte doch, daß es nur ein Menschenkonstrukt ist, was hier an "Diagnosestellung" passiert.

    Leider ist es aber so, dass ich mit einem gesellschaftlichen Ist-Zustand arbeiten muss, in dem die Dinge nun einmal so stehen, wie sie stehen. Was nutzt es, wenn ich mir unzählige namenlose Realitäten bunt ausmale, die mit der tagtäglichen Wirklichkeit nun einmal nicht viel zu tun haben? Davon wird mein Dasein auch nicht erträglicher. Außerdem habe ich es mit Flucht in Parallelwelten schon ausgiebig versucht. Lindert den Weltschmerz auch nicht.

    Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in welcher der Einzelne nun einmal gefälligst möglichst standardkonform funktionieren soll... backe, backe, Häusle baue. Und so wenig mir dieser Umstand schmecken mag, so wenig kann ich persönlich daran ändern, und so wenig kann ich auf Änderung hoffen. Schon allein aus dem Grund, dass sich für das Gros der Bevölkerung dieses Konzept bewährt hat.
    Himmel hilf, die Perversion unserer Gesellschaft lässt sich schon allein am Umstand ablesen, dass der Mensch in seiner grenzenlosen Hybris glaubt, ein Anrecht auf ein halbwegs stabil bleibendes Klima zu haben. Ähnliche Ansprüche gelten halt auch für das Produktionsmittel "Menschenmaterial".

    Zitat

    Wir leben in so sonderbaren Gesellschaftsmodellen, in denen kaum unter die Oberfläche geschaut wird, und alles, was nicht passt, wird angepasst.

    In Japan sagt man, dass man den hervorstehenden Nagel einfach reinklopft. Bei uns heißt es halt: "Was nicht passt, wird passend gemacht!", was sich erweitern lässt auf "Kann es nicht passend gemacht werden, ist es kaputt!"

    Was nutzt all das Gemeckere? Die Entwicklung in diese Richtung steht gerade erst am Anfang, und es wird noch schlimmer kommen. Turbo, Turbo: Produktivität, Effizienz, Gewinnsteigerung, Gesundschrumpfen, Turbostudium, Privatvorsorge.... ach, was soll ich mich beschweren... anderer Leute effiziente Produktivität finanziert mein Auskommen.

    Zitat

    Und du wirst besondere Bedingungen brauchen, um dich in all deinen Fähigkeiten und Talenten wohl zu fühlen.

    Wie sollten die denn bitte aussehen?
    Auf Anhieb fallen mir da nur ein: Sekretär + Putzkraft, oder Krieg, oder Wegschließen, wahlweise in Psychiatrie oder Gefängnis, Grundeinkommen.
    Alles keine reale Option.

    Das war es! Da sind keinerlei Talente auf die ich mich berufen könnte, geschweige denn Fähigkeiten, die ich dauerhaft umsetzen könnte. Und es geht Vielen so. Nun stellen wir uns doch noch zusätzlich vor, ich lebte nicht in einem Land mit einer umfangreichen sozialen Absicherung, dann wäre meine einzigen Option das Verhungern am Straßenrand, oder wenigstens Kraft irgendeines Präparats automatenhaft mein Einkommen zu erwirtschaften.
    Und nun muss ich wieder die Genese dieser Absicherung anführen... mich über die Industrie- bzw. Dienstleistungsgesellschaft zu beschweren, gleicht letztlich dem Biss in die fütternde Hand.

    Zitat

    du stellst jetzt aber doch genau nur die Alternativen

    Vollgpumpt oder weggemobbt in den Raum und genau das finde ich so beknackt.

    Aber genau hier liegen im Moment die Optionen! Jede andere Alternative siedelt sich zweifelsohne im Bereich des Idealismus an, und ist Wunschdenken.

    So lange man ein Kind mit einem sperrangelweit geöffneten Reizfilter in einen beinahe 30 Mann starken Verbund Gleichaltriger hineinnötigt, sehe ich persönlich nicht viele Alternativen, vor allem bezahlbare. Joa, Bezahlbarkeit muss bedacht sein, denn so wie unsere Welt im Moment funktioniert, ist das nun einmal ein wichtiges Kriterium. Änderung wie gesagt nicht in sicht.

    Mal davon ganz abgesehen:
    Deinen Ansatz hatten wir schon einmal in der DDR. Da gab es weder ADHS, noch Legasthenie, noch sonst irgendeine dieser Lernstörungen. Kinder waren da einfach dämlich, faul, oder verhaltensgestört. Aber kein Problem, dafür gab es dann die "besonderen Bedingungen". Nannte sich Sonderschule, bot Ausmalbildchen bis zur 7. Klasse und vorrangig Arbeitsdienst an. Wiederholen in der 1. Klasse? Unmöglich! Ab auf die Sonderschule! Klar, im Kontext der DDR-typischen Gesellschaftsverhältnisse war das beileibe auch gar nicht so problematisch. Irgendeine Arbeit hat man dir schon zugewiesen, und letztlich war es auch kein größeres Problem, wenn deine Arbeitsleistung nicht so der Hit war. Joa mei: der ist halt ein bisschen langsam, dumm, faul, was auch immer. Bis zur Rente durchschwimmen war allemal machbar.
    Für besonders auffällige Kinder hatte man auch eine Form der Internierung geschaffen: die so genannten Jugendwerkhöfe. Will sagen, dass selbst in so einem System der Geduld Grenzen gesetzt sind.

    Nun schauen wir uns doch einmal an, was heutzutage arbeitstechnisch noch drin ist, wenn du eine Förderschule besucht hast. Im Regelfall? Nicht die Bohne! Kloar, irgendeine staatlich finanzierte Ausbildung schustert man dir noch zu, aber dann wird's mau.

    Soll ich jetzt diese Umstände einfach ausblenden?
    Gibt genug Eltern von ADHS-Kindern die genau das probieren: "Die Gesellschaft ist das Problem!" Ja und? Ist ja prima, wenn das so ist, ändert aber nichts an dem Umstand, dass ihr Sohn noch vor Ablauf seiner Grundschulzeit die Anzahl seiner verschiedenen Schulen nicht mehr an einer Hand abzählen kann.
    Das ist auch wunderbar für ein Kind, und fühlt sich echt prima an.

    Zitat

    So ist es halt.
    hat ja keiner gesagt, daß das Leben mit sich selber immer schön ist.

    Nö, verlangt ja auch niemand. Aber, der Krankheitswert eines Umstandes ist immer im Kontext seiner Zeit zu betrachten. Wenn meine Seinsform innerhalb meiner Zeit so unpässlich ist, dass sich daraus Unerträglichkeit ergibt, so hat das für mich pathologischen Wert, frei nach der Formel: "Ich leide permanent ohne dies herbeigeführt zu haben, also bin ich krank!" Das ich an dieser Stelle Linderung anstrebe, weil man mich eben nicht von meiner Seinsform "heilen" kann, eben weil ich so bin, wie ich bin, und ich das hinnehmen muss, ist nur allzu menschlich.

    Und zum Thema Linderung, siehe meinen ersten Beitrag: Nicht jeder kann sich speerschnitzend in den Wald setzen, auf der Alm Holz hacken, oder sich gar der Schulbildung verweigern, und ansonsten will mir im Rahmen der Möglichkeiten der jetzigen Zustände nicht mehr viel einfallen.

  • Nachtrag, weil mir gerade spontan einfällt, dass ich noch etwas Wichtiges direkt beim ersten Beitrag vergaß:

    Da wird in dem Artikel bemängelt, dass viele Kinder reinweg medikamentös behandelt werden, eine begleitende VT aber nicht stattfindet. Ja kloar, sehe ich auch als absoluten Mangel, weil momentan eigentlich gilt: Medis allein zwar bessere Chancen als VT allein, aber weit entfernt von den positiven Effekten der multimodalen Therapie.

    Problemstellung: Finde mal einen spezialisierten Psychologen! Für Erwachsene schon schwer, obwohl man sich da durchaus mit einem handelsüblichen VT arrangieren kann. Bei Kindern geht das aber nicht, weil die Befindlichkeiten und Anforderungen speziell sind, so dass ein unwissender Therapeut mehr schaden, als nutzen kann.
    Über die Therapeutendichte im Allgemeinen brauchen wir überhaupt nicht reden. Letztlich gibt es mehr Psychiater/Neurologen als Psychotherapeuten, was an den Modalitäten der KK-Zulassungen liegt. Dann bedenke man noch die unterschiedlichen Ausrichtungen, und wieviel dann explizit auf Kinder/Jugendliche spezialisiert sind.

    An der Stelle wäre mal ein Ansatzpunkt. Als Erwachsener kann ich mich ja noch mit der Mangelversorgung und den daraus resultierenden utopischen Wartezeiten arrangieren. Bei einem Kind kann aber binnen eines halben Jahres das Kind schon in den Brunnen gefallen sein.

    So, ich habe fertig!

  • Hallo WbD,

    nun endlich ist die Zeit da, zum Antworten :3:

    Zitat

    Aber genau hier liegen im Moment die Optionen! Jede andere Alternative siedelt sich zweifelsohne im Bereich des Idealismus an, und ist Wunschdenken.

    Ja, hast Recht, es ist im Bereich des Idealismus anzusiedeln - ABER! Die bestehenden Möglichkeiten (Vollpumpen oder wegmobben) sind beide gleich bescheiden und sind beidermaßen verbesserungswürdig.

    Dinge verändern sich. Politische Systeme ändern sich und auch Wertvorstellungen ändern sich. Zwar nur ganz langsam, und bestimmt bewirkt es "nichts", wenn wir hier über das Thema reden, aber das stimmt nicht. Es bewirkt nämlich doch was. Wenn auch nur sehr wenig. Aber auch ein Strand bestehe aus ganz vielen Einzelteilen, und ist doch da.

    Natürlich verändert es was in mir, wenn ich mir z.B. solche Videos, wie das auf youtube, das du letzt mal gepostet hast, anschaue.

    Und ich bin auch davon überzeugt, daß verändertes Bewußtsein langfristig Veränderungen nach sich zieht - so ist meine Wahrnehmung der Welt.

    Ich mein - ganz klar - ADHS ist (meist) nicht schön für die Betroffenen, aber die Aufklärung ist doch noch überhaupt nicht weit fortgeschritten. Wer weiß denn schon mehr darüber? Und wenn es mehr Kenntnis darüber gibt, dann steigen auch die Chancen, daß wir als Gesellschaft lernen, es anderns zu betrachten.

    Zitat

    Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in welcher der Einzelne nun einmal gefälligst möglichst standardkonform funktionieren soll... backe, backe, Häusle baue. Und so wenig mir dieser Umstand schmecken mag, so wenig kann ich persönlich daran ändern, und so wenig kann ich auf Änderung hoffen. Schon allein aus dem Grund, dass sich für das Gros der Bevölkerung dieses Konzept bewährt hat.

    Das mag jetzt gerade mal so sein, aber das ist ja wirklich nicht in Zement gemauert! Wir haben so kurz erst unsere Modelle, es hat sich in den letzten Jahrzehnten so unglaublich viel verändert, da ist wirklich nicht gewiß, wie lange jeweils ein Denken vorherrscht.

    Ich habe keine Lust, Dinge, die ich verbesserungsbedürftig oder würdig empfinde, einfach so hinzunehmen. Ich mag in einer Welt leben, in der ich der Phantasie Raum gebe und zumindest langfristig Veränderungen - auch mal in gewünschte Richtungen - anstrebe. Wenn ich einfach nur sage: "So ist die Realität, passe dich an", dann spreche ich ja dem Prozess die gesamten Möglichkeiten ab.

    Wäre es nicht viel sinnvoller ADHS unter "Behinderung" einzustufen - da ist dann auch Platz für den Wunsch nach Linderung?

    Und die häufigen Schulwechsel die können leicht zustande kommen. Da gibt es die verschiedensten Ursachen für (auch ich hab ja bis zur 8ten Klasse jedes Jahr die Schule gewechselt) und sicherlich hat das Wirkungen, aber da heißt es dann halt, dies zu verstehen und so anzunehmen, daß man es leben kann.

    Es fallen so viele Menschen durchs Raster, weil sie nicht so funktionieren, wie sie sollen - und ich finde es immer bescheiden. Ich möchte keine anderen Menschen, aber ich es ist mir ein Anliegen, über das Raster zu reden, denn so KANN Veränderung passieren.

    Aber es sind nicht die Menschen unpassend - das Raster ist nicht passend.

    So, da hab ich nun bestimmt wieder ganz viel vergessen - da finde ich deine Fähigkeit, so viel im Kopf zu behalten und dann auch noch wohlsortiert zu Papier (oder Monitor) zu brigen, bewundernswert.

    Was wäre eigentlich mit dem Job des Kritikers? Der müsste doch auch was sein ......und nicht nur Jäger :winking_face:

    LG Wolke

  • Strukturiert? Das täuscht... ich habe genauso zwanzigtausend Dinge vergessen, unterschlagen, und unsauberer beschrieben, als mein Ansinnen ist. Schriftliches braucht, so man es denn ordentlich ausformulieren und darlegen möchte, einfach Zeit und Planung. :grinning_squinting_face:

    Rollen wir es doch einmal von hinten auf.

    Zitat

    Was wäre eigentlich mit dem Job des Kritikers? Der müsste doch auch was sein ......und nicht nur Jäger

    "Ordentliche", nicht langweilige Kritik ist hohe Kunst, nötigt dem Kritiker beinahe noch mehr ab, als dem Schaffenden des kritisierten Produkts. Und für Kritik muss man etwas wissen, muss erinnern können, nicht binnen weniger Minuten, oder gar Sekunden Inhalte vollkommen vergessen haben.
    Ich für meinen Teil könnte nie Literatur kritisieren. Denke ich an ein Buch, so sehe ich vor meinem inneren Auge Abläufe von Bildern, die ich mir beim Lesen ausgemalt habe, kann mich aber weder an Wendungen, noch an konkrete Inhalte erinnern. Wenn man so möchte, einfach ein optisches Exzerpt. Im Sinne einer Kritik vollkommen nutzlos.

    Zitat

    Aber es sind nicht die Menschen unpassend - das Raster ist nicht passend.

    Das mag ja sein, und ich bin weiß Gott einer Derjenigen, die sich über allerlei gefühlte Missstände und gesellschaftliche Probleme permanent beschweren. Nein, anders noch, diese Missstände so vehement und bedrohlich wahrnehmen, dass sie jeden Morgen damit beginnen ein Stoßgebet zu entsenden, dass dies alles doch endlich ein Ende haben solle, egal wie.

    Klar, ich kann anprangern, kann kritisieren, kann mich aufregen, beschweren, weiß der Geier. Sicher mag das auch einen kleinen Effekt haben. Dieser bleibt aber, im Kontext des Großen und Ganzen, vorerst wirkungslos, hat für mein unmittelbares Leben, das ich ja nun leider gezwungen bin zu leben und halbwegs durchzustehen, keinerlei Bedeutung. Gemäß dem Brecht'schen Credo, dass zuerst das Fressen und dann die Moral käme, bin ich gezwungen, zwischen den Ansprüchen und Unzulänglichkeiten meines gegenwärtigen Lebens, dem Kontext in dem dieses stattfindet und meinen ethisch-moralischen Forderungen bzw. Betrachtungen streng zu differenzieren. Führe ich mir permanent vor Augen, wie sehr der Ist-Zustand von meinem erträumten Soll-Zustand abweicht, bleibt einfach kein Aktionsraum mehr, kein Platz für wenigstens ein paar Momente anklingender Zufriedenheit im zähflüssig dahinschmoddernden Strom von Tristesse und Siechtum.

    Zitat

    Wäre es nicht viel sinnvoller ADHS unter "Behinderung" einzustufen - da ist dann auch Platz für den Wunsch nach Linderung?

    Was in der Praxis auch so gehandhabt wird. Ich kann Nachteilsausgleiche einfordern, gesonderte Prüfungsbedingungen einfordern und durchsetzen, nur um das mal auf schulischer Ebene abzuhandeln. Tatsächlich sind mir auch Vorgänge bekannt, wo eine allzu desaströse Beeinträchtigung auch im Rahmen von Berentung Berücksichtigung fand.

    Zitat

    Das mag jetzt gerade mal so sein, aber das ist ja wirklich nicht in Zement gemauert! Wir haben so kurz erst unsere Modelle, es hat sich in den letzten Jahrzehnten so unglaublich viel verändert, da ist wirklich nicht gewiß, wie lange jeweils ein Denken vorherrscht.

    Das kann ich so nicht unterschreiben. Oberflächlich betrachtet, hat es tatsächlich den Anschein. Nimmt man es aber genau, so hat sich an den grundlegenden Werten und Mechanismen nicht viel getan. Bei einem riesigen Teil hat sich nur die Art und Form der Rationalisierung geändert.
    Ein etwas vom Thema abweichendes Beispiel:
    Ob nun Stammesgesellschaft, athenische Demokratie, römische Demokratie, römisches Kaisertum, die mittelalterliche Ständegesellschaft, Absolutismus, aufgeklärter Absolutismus, die Pseudodemokratien der Moderne, Pseudosozialistische Staatsformen, usw. - allen gemein ist die Existenz einer herrschenden Schicht, in der sich Macht zentriert, und sind die Mechanismen der Machtausübung, bzw. Machtlegitimierung. Dabei ist es nun vollkommen egal, ob ich von "Gottes Gnaden" herrsche, oder angeblich gewählter Volks(ver-)treter bin. Oder anders: Letztlich war auch ein Sonnenkönig nicht vor einem mistgabelschwingenden Bauernmob gefeit. Geändert hat sich im Lauf der Zeit nur, wie diese Mechanismen rationalisiert und in ein philosophisches Korsett geschnürt wurden, um verkauft werden zu können. Wenn man so will, bestimmte man einfach einen neuen Namen für das alte Armenmahl. :winking_face:

    Hier grassiert ja im Moment gerade der Ökofaschismus und kulminiert im Frevel des E-Autos. Anderer Name, gleiches Problem. :winking_face:

    Nunja, ich wollte eigentlich darauf hinaus, dass Parallelen zwischen den Mechanismen unserer modernen Arbeitswelt und dem ägyptischen Pyramidenbau tatsächlich nicht allzu weit hergeholt sind, was schließlich nicht daran liegen mag, dass wir so grausliche Arbeitsbedingungen haben, sondern daran, dass die Ägypter weitaus weniger inhuman vorgegangen sind, als wir uns das zur Beruhigung gern gegenseitig verkaufen wollten. :winking_face: Gut lebt sich's, wenn man's besser hat, als der Nachbar. :winking_face:
    Die DDR befreite uns von den Fesseln der abhängigen Lohnarbeit... Planerfüllung klingt auch nicht besser. :face_with_tongue:

    Um den Bogen noch mal zu bekommen, und nicht noch mehr abzuschweifen: Der mittelalterliche Bauer trug seinen krumm geschufteten Buckel ordensgleich zur Schau und wir suchen uns in der Menge der erarbeiteten Magengeschwüre zu übertrumpfen. Kommt raus, worauf ich hinaus will? Änderung... *hüstel* nu kloar, ist was gaaaaanz Anderes. :winking_face:

    Zitat

    Ich mein - ganz klar - ADHS ist (meist) nicht schön für die Betroffenen, aber die Aufklärung ist doch noch überhaupt nicht weit fortgeschritten. Wer weiß denn schon mehr darüber? Und wenn es mehr Kenntnis darüber gibt, dann steigen auch die Chancen, daß wir als Gesellschaft lernen, es anderns zu betrachten.

    Auch das muss nicht sein. :grinning_face_with_smiling_eyes: Nur ein Teil der Betroffenen entwickelt dadurch etwas mit pathologischem Wert. Viele wissen gar nicht darum, und beziehen aus dieser Disposition gar einen großen Teil ihrer Schaffenskraft.
    Du, ich persönlich halte ja größere Gruppen von Menschen prinzipiell für kaum lernfähig. Anders lässt sich nicht erklären, dass beharrlich ausgeblendet wird, dass das Zeitalter des grenzenlosen Individualverkehrs ein Fehlgriff war, und sich da generell etwas zu ändern hätte, an Stelle vermittels dem Ersinnen immer neuer Problemverlagerungen sich vehement überhaupt um das Aufgreifen dieses Themas zu drücken.

    Zitat

    Und die häufigen Schulwechsel die können leicht zustande kommen. Da gibt es die verschiedensten Ursachen für (auch ich hab ja bis zur 8ten Klasse jedes Jahr die Schule gewechselt) und sicherlich hat das Wirkungen, aber da heißt es dann halt, dies zu verstehen und so anzunehmen, daß man es leben kann.

    *hüstel* Es ist aber schon ein Unterschied, ob ich wegen beispielsweise beständig umher vagabundierenden Eltern die Schule wechsle, oder mit Regelmäßigkeit als Fremdwährung aussortiert werde. :winking_face: Und nun erklärst du auch noch einem betroffenen Kind, wie es diesen Umstand integrieren, annehmen und halbwegs vernünftig leben kann.

    Ich will aber auch anmerken, dass diese häufigen Schulwechsel auch nur einen Teil der Betroffenen betrifft. Wie ja schon gesagt, sind viele Kinder während ihrer Schulzeit kaum auffällig. Ich für meinen Teil habe ja die Schulen auch aus eigenen Wünschen gewechselt, wurde nirgendwo ausgesondert, war ja der "liebe Junge". :face_with_tongue:

    Zitat

    Die bestehenden Möglichkeiten (Vollpumpen oder wegmobben) sind beide gleich bescheiden und sind beidermaßen verbesserungswürdig.

    Du, es ist einfach so: Ich habe nun live mitverfolgen dürfen, wie eine Unzahl betroffener Erwachsener sich Jahr um Jahr mit ihren Krankenkassen rumstritten, Aufklärungsarbeit betrieben, vor Gericht gezogen sind, allgemein kämpften, nur damit im Sommer des Jahres 2011 MPH endlich eine Zulassung für Erwachsene bekommt. Wohlgemerkt gilt das nur für ein einziges Präparat eines einzigen Herstellers.
    Viele mussten dieses Medikament jahrelang aus eigener Tasche auf Privatrezept bezahlen. Viele konnten sich das nicht einmal leisten, und mussten auf verschreibbare, kaum funktionierende Alternativen zurückgreifen, mit denen sie mehr schlecht als recht klarkamen, arge Nebenwirkungen in Kauf nehmen mussten, kurzum ihre Funktionsfähigkeit eigentlich auch nicht verbessern konnten.
    Das war für Einige ein wirklich schmerzlicher Kampf um Anerkennung, in dem eine Menge Federn gelassen worden.

    Ist da nachvollziehbar, warum ich mit Formulierungen wie "vollpumpen", "Kokain auf Rezept", "macht psychisch abhängig", "Ruhigstellen", "dopen" und Dergleichen ein generelles Problem habe, mich das säuerlich macht???? Ich denke doch, oder?

    Ich habe selbst mal kurz an einer Förderschule für Lernbehinderte gearbeitet, und kann dazu nur ein was sagen: ein "Sonderbetreuung" kann auch nicht der Stein der Weisen sein, weil diese langfristig mehr schaden kann, als dass sie zu nutzen vermag. Mit welcher Berechtigung sollte man ein Kind mit durchschnittlicher kognitiver Leistungsfähigkeit in ein solches Umfeld aussortieren, nur weil es nicht in der Lage ist, seine eigentlich vorhandenen Fähigkeiten zu kanalisieren?? Sorry, aber was ich während des kurzen Intermezzos dort erlebt habe, spottet jeglicher Beschreibung. Laufend die Polizei rufen müssen. Siebtklässler veranstalten Koksgelage und Orgien auf dem Klo. Lehrer brechen zusammen, werden bedroht. Paah, lass mal. Sollte ich mal ein Kind haben, und der Gang zur Sonderschule stünde zur Debatte, dann wanderte ich irgendwohin aus, wo Heimunterricht unkompliziert umsetzbar wäre. Mein Wort darauf.

    Klar sollte man mit Medikamenten generell umsichtig umgehen, und glaube mir, viele Eltern betreffender Kinder sind sogar übervorsichtig, hadern tagtäglich mit sich und ihrer Entscheidung, hadern mit Diagnose(-richtigkeit), usw. Das ist für niemanden einfach. Was aber definitiv nicht hilft: Im Deckmäntelchen des Gutmenschtentums mit Fingern darauf zeigen, wüste und verletzende Hetzparolen um sich werfend. "Ruhigstellen, indem man sie mit psychisch abhängig machendem Kokain auf Rezept vollpumpt, um sie leistungsfähiger zu dopen!" Weißte, da kommt bei mir so ein Bild hoch, wie irgendwer in einer alten Psychiatrie fixiert rumliegt, und Haldol sei Dank einen Sabberplatz tragen muss. Solche Vergleiche sind einfach inhuman, für Kind, Eltern und erwachsene Betroffene, die eine Medikation letztlich auch nur als Ultima Ratio betrachten.

    Ich habe fertig!

  • Hallo WbD,

    gleich vorneweg - ja, klar, es ist völlig verständlich, wenn du angesäuert auf Pauschalaussagen gegen die Medikation reagierst. :3:

    Dazu möcht ich aber auch anmerken daß diese reißerische knappe Zusammenfassung "vollgepumpt oder weggemobbt" nicht am Anfang stand, sondern aus dem Gespräch als genau das, was eben Beides nicht toll ist, so formuliert wurde.

    Ich selber habe hauptsächlich ein paar persönliche Fälle vor Augen, denk oft an meinen Neffen, der das Ritalin gehasst hat. Aber die Noten wurden doch so viel besser! Mein Neffe ich stressig, aber auch großartig. Was dieser Junge beim Bergsteigen für Qualitäten gezeigt hat, das war total verblüffend. So viel Stärke im Wegstecken von Misslichkeiten.


    ...ach je....ich muss los!

    Werde dann wohl morgen weiterschreiben.

    Auf jeden Fall find ich das Gespräch total gut.

    LG Wolke

  • Hallo Wolke,

    wir haben allesamt irgendwelche Stärken gezeigt, aber letztlich kommt es eben auch auf die Schule an. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Und ehrlich gesagt, finde ich persönlich Bildung auch in einer Art wichtig, so dass ich nicht generell die Rolle der Schule, sondern nur ihre Form in Frage stellen kann.
    Die mir vorschwebende Schulform ist nun einmal nicht flächendeckend bezahlbar. Jedenfalls nicht in diesem Land.

    Aber eigentlich wollte ich nur noch eine Doku reinstellen. Ich habe mal eine Playlist bei youtube erstellt:
    ADHS bei Erwachsenen und Kindern - Spiegel TV - Doku - YouTube

    Interessant ist ja der Umstand, dass in dieser Reportage ja viele Formen der gesonderten Bildungsbestrahlung gezeigt werden. Halt nicht für die Masse bezahlbar.

    Solche Videos stimmen mich immer etwas melancholisch. Bedenkt man, wie viel Förderung eigentlich machbar ist, wenn denn irgendeiner der Beteiligten mal geschalten hätte... aber ja, ich war ja auf einem selbsterklärten Elite-Gymnasium, jedenfalls hätten sie diesen Status gern gehabt... das musste reichen.

    Wenn sich's wirklich wer ansehen sollte. Vor allem die in Teil 7,8,9,10 thematisierte Figur des "Phillips" kommt mir merkwürdig vertraut vor. Wobei ich mich aber so ziemlich in Jedem wieder finde.

    Ich persönlich finde die Debatte überhaupt nicht so gut, weil ich die an den unterschiedlichsten Stellen schon so wahnsinnig oft geführt habe. Am meisten stört mich eigentlich, dass das Ganze auch noch auf einem Artikel der FAZ fußen muss, welche, abgesehen von den üblichen Boulevardblättern, eine extrem auflagenstarke Zeitung ist.


    LG
    WbD

  • Hallo WbD,

    öh...schluck ...

    Zitat

    Ich persönlich finde die Debatte überhaupt nicht so gut

    hm....schade. Ich weiß nun zwar nicht genau, ob die Art des Gesprächs oder das Thema meinst, aber ich mag dich ja nun auch nicht langweilen oder nerven und nun frage ich mich, ob es denn dann überhaupt Sinn macht, meine ausstehende Antwort überhaupt noch loszulassen, denn außer uns schreiben ja im Moment nicht wirklich viele hier.


    LG Wolke

  • Zitat

    hm....schade. Ich weiß nun zwar nicht genau, ob die Art des Gesprächs oder das Thema meinst, aber ich mag dich ja nun auch nicht langweilen oder nerven und nun frage ich mich, ob es denn dann überhaupt Sinn macht, meine ausstehende Antwort überhaupt noch loszulassen, denn außer uns schreiben ja im Moment nicht wirklich viele hier.

    Es geht reinweg um das Thema. Wie oft ich innerhalb der letzten paar Jahre schon etwas wie "Das gibt es nicht. Ist nur ne Modediagnose." gehört habe, und wie oft ich auch im RL probieren musste, angemessen darauf zu reagieren.
    Und was ich über Ritalin nicht alles schon gehört habe... Mensch, letztlich die gleichen Sachen, die man noch vor 100 Jahren von der Selbstbefriedigung... verursacht Kleinwüchsigkeit, Hirnschäden, bla,bla. Fakt ist, dass MPH eines der besterforschten Präparate ist, die wir auf dem deutschen Markt haben. Wir kennen zwar nicht den korrekten Wirkmechanismus -das sieht aber bei Acetylsalicylsäure auch nicht viel anders aus - können hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit aber auf eine Unmenge von Langzeitstudien, selbst mit Extremstdosierungen über Jahre hinweg, umfangreiche Metastudien, und was weiß ich nicht, zurückblicken.
    Die Folge: Unzählige Kinder, die zu allen möglichen und unmöglichen Alternativverfahren geschleppt werden... vom Homöopathen, über den Makrobiotiker, bis hin zum Voodoopriester ist da alles dabei. Wenn ich schon das Wörtchen Globuli in Verbindung mit ADHS höre, wird mir schlecht. Vor Apotheken fein säuberlich drappierte Werbeschilder für den homöopathischen Kram, die unterschwellig die Hexenjagd auf Ritalin aufgreifen, und mit den Ängsten der ohnehin schon bis ins Mark verunsicherten Eltern spielen.

    Und das nimmt mich aus anderen Gründen auch noch mit:
    Weißte, mit ADHS haste ja sowieso das Problem, nicht Ernst genommen zu werden: Nicht verrückt und auffällig genug. Himmel, manchmal erwisch ich mir selbst, wie ich mir beim Anblick eines ausflippenden, aufsässigen Kindes denke: "Mensch, bringt dem doch mal Manieren bei!" Ich sag's mal ganz frech und brachial: Wenn du täglich 90% deines Essens wieder auskotzt, dir die Arme aufschnippelst, zur vollkommenen Lethargie verdammt auf einem Bett rummoderst oder dich mit mir fernmündlich unterhältst, erst nachdem du das Telefon aufgelegt hast, dann ist klar, dass da was im Argen liegt.
    Aber so ein bisschen ADHS sind wir doch alle, oder nicht? Unruhig und getrieben? Wer ist das in unseren heutigen Zeiten nicht? Logo, dass sich jeder nur die Einzelsymptome rauspickt, mit denen er aufwarten kann, aber eigentlich keine Ahnung hat, wie das Gesamtpaket abgehen kann.
    Dann kommt wieder die Alm wo die wilden Kerls glücklich abgehen können. Ich weiß nicht, ob du dich an die letztjährige Episode in meinem PF erinnern kannst, in der ich so fixiert auf das Leben auf einer einsamen Insel war. Alm, Insel, ach, das ist gleich... was glaubst du nicht, was ich alles schon für Aussteigerfantasien entwickelt habe. Am Ende läuft's aber darauf hinaus, dass nicht für uns alle ein Almplatz über ist. Von 5% betroffener Kinder, behalten gut 60% ihre Problematik bis ins Erwachsenenalter, was im Endeffekt bedeutet, dass 3 von 100 Erwachsenen betroffen sind, es in Absolutzahlen allein in Deutschland um ein paar hunderttausend Erwachsene geht, in allen Bildungsschichten und beruflichen Positionen, die man sich so vorstellen kann. Bei aller Liebe zu alternativen Konzepten, kann aber auch da nicht das Allheilmittel gesehen werden.

    Nun, egal, nur weil mich das Thema mitnimmt, und wir scheinbar beiden die Einzigen sind, die es hier interessiert, heißt das noch lange nicht, dass ich die Diskussion nicht gern weiterführen möchte. :grinning_face_with_smiling_eyes:
    Also, immer frei weg von der Brust, bitte!

  • Ok, Freu,

    gleich mal vorneweg - ich will hier nicht in die Bresche der "Ritalin-Kritik" springen - ne, ne - ganz und gar nicht. Und ich erkenne auch den Leidensdruck an und die Notwendigkeit, bei Leidensdruck aktiv zu werden. (und dies auch ganz generell)

    So wie du auf das Thema anspringst, weil es dich betrifft und weil Du oft mit den ganz haltlosen Anti-Ritalin-Argumenten konfrontiert bist und dich darum verständlicherweise entsprechend aufregst (das ist ja auch gut so!), so springe ich auf das "Du musst gleichgemacht werden" bzw: "So wie du bist, bist du nicht ok" an.

    Darum geht es mir nun auch weniger um eine grundsätzliche Kritik an einer medikamentösen Therapie für ADHS, als vielmehr um eine Kritik an die so massive Zunahme der Diagnose und daraus resultieren Behandlungen, von denen ein deutlicher Prozentsatz umstritten ist. Und in diesem Zusammenhang geht es mir um genau die Diagnosen, die dann weniger aus Leidensdruck heraus, sondern aus dem Wunsch nach Angepasstheit entstehen. Warum verdoppeln sich die Anzahl der Diagnosen so rasant? (ein bisserl polemisch gefragt) - aber wenn man da im Netz Sucht (und nicht bei Cafe Hollunder :r:), dann stolpert man über Zahlen, die heftig sind - Zunahme der verschriebenen Menge innerhalb von 10 Jahren von ca 50kg auf ca. 1000 kg.

    Es geht (mir) überhaupt nicht darum, zu sagen, eine ADHS-Therapie ist Mist und macht nur unglücklich, vermittle nur das Gefühl, nicht akzeptiert zu werden; aber ich denke doch, daß unsere Toleranz-Schwelle zu niedrig ist (aber das denke ich ganz allgemein über die Frustrationstoleranz - die ist viel zu gering, wir sind hier doch mehrheitlich Weicheier und Waschlappen in den Industrieländern), daß zu schnell und zu früh medikamentös eingegriffen wird.

    Aber wie fast überall. Schau dir die Zahlen der Krebs-OP's an - sehr umstritten. Schau dir die Zahlen der Obduktionen an - bis zu über 50% Fehldiagnosen! (Quelle: privat, Mitarbeiterin im Labor einer Krankenhauspathologie - Aber hier muss man fairerweise auch zugeben, daß die eindeutigen Fälle nicht obduziert werden)

    Zitat

    In Japan sagt man, dass man den hervorstehenden Nagel einfach reinklopft. Bei uns heißt es halt: "Was nicht passt, wird passend gemacht!", was sich erweitern lässt auf "Kann es nicht passend gemacht werden, ist es kaputt!"

    Japan ist aber ein ganz schlechtes Beispiel, wenn es darum geht, wieviel persönlicher Entwicklungsspielraum einem Menschen, und speziell einem jungen Menschen zugestanden wird. Ich meine Japan hat die höchste Selbstmordquote unter Jugendlichen. Die psychiatrischen Einrichtungen sind katastrophal, Erkrankte dürfen in vielen Einrichtungen nur von Familienmitgliedern und nicht von Freunden besucht werden. Homosexualität ist ein Riesentabu. Etc.....da fängt gerade erst an, eine Entwicklung einzusetzen, allgemein mehr in Frage zu stellen.

    Ansatz Schule, Bildung und Verhaltenstherapien.....hier habe ich ne Menge Gutes gelesen.
    Ganz so, wie du es hier beschreibst:

    Zitat

    Da wird in dem Artikel bemängelt, dass viele Kinder reinweg medikamentös behandelt werden, eine begleitende VT aber nicht stattfindet. Ja kloar, sehe ich auch als absoluten Mangel, weil momentan eigentlich gilt: Medis allein zwar bessere Chancen als VT allein, aber weit entfernt von den positiven Effekten der multimodalen Therapie .

    Aber dann haben wir ja nun auch schon so viel geschrieben, daß es noch viel mehr Einzelteile gibt, auf die ich eingehen mag:
    Stichwort: Über den Missstand sprechen

    Zitat

    as mag ja sein, und ich bin weiß Gott einer Derjenigen, die sich über allerlei gefühlte Missstände und gesellschaftliche Probleme permanent beschweren. Nein, anders noch, diese Missstände so vehement und bedrohlich wahrnehmen, dass sie jeden Morgen damit beginnen ein Stoßgebet zu entsenden, dass dies alles doch endlich ein Ende haben solle, egal wie.

    Klar, ich kann anprangern, kann kritisieren, kann mich aufregen, beschweren, weiß der Geier. Sicher mag das auch einen kleinen Effekt haben. Dieser bleibt aber, im Kontext des Großen und Ganzen, vorerst wirkungslos, hat für mein unmittelbares Leben, das ich ja nun leider gezwungen bin zu leben und halbwegs durchzustehen, keinerlei Bedeutung.

    Stimmt - ist für das unmittelbare Leben von so kleiner Bedeutung, daß es nicht ins Gewicht fällt, aber langfristig gesehen, ist die Bedeutung dennoch wirksam.

    Mir ist es enorm wichtig, mit Idee zu leben - dies ist eben "mein Sinn". Ein Leben, nur für den Moment, nur für meine kleine Spanne, ist mir nichts. Darum ist es mir wichtig, mich um ein Bewußtsein zu bemühen. Dies gelingt nicht immer, bzw dies gelingt ganz oft nicht, aber was soll ich mich nun vom Fehler hindern lassen, wenn es denn ab und an auch aml gelingt, etwas "richtig" (ja, ja - nun müssten wir erst mal ganz lang das Wort "richtig" definieren) zu machen.

    Zitat


    Das kann ich so nicht unterschreiben. Oberflächlich betrachtet, hat es tatsächlich den Anschein. Nimmt man es aber genau, so hat sich an den grundlegenden Werten und Mechanismen nicht viel getan. Bei einem riesigen Teil hat sich nur die Art und Form der Rationalisierung geändert.



    Einspruch:
    Es mag sich ja in den letzten 2000 Jahren nicht sehr viel an Gesellschaftsmodellen geändet haben, da stimme ich dir zu, aber seit der französischen Revolution ist ein Veränderungsprozess im Gange, der sehr viel mit dem Glücksanspruch des Einzelnen zu tun hat.

    Als Frau habe ich seit mehreren Jahrzehnten viel viel mehr Möglichkeiten, als ich sie in vielen Jahrhunderten zuvor hatte. Gerade als Frau kann ich nun - mit Recht! - unabhängig leben, und dies war vorher kaum möglich. Die Frauen, die dies (in Europa) schafften waren privilegierte Ausnahmen.

    So,

    nun fehlt mir mal wieder Faden und Zeit - aber wahrscheinlich haben wir uns jetzt eh schon zur Genüge ausgetobt.

    Ich verstehe sehr gut, daß es dich mega nervt, wenn es nur nach "Böses Ritalin - das allein ist schuld am ....was weiß ich was!" klingt - aber dies meinte ich auch nicht.
    Mir gehts wirklich darum, daß es mich total nervt, wenn alles funktionieren und heile sein soll. Ich kotzt genauso über ganz viele andere Dinge, bei denen nur das "Gute und Fehlerfreie" bevorzugt wird. Mir fehlt da der Raum für Fehler, für Kanten, für Abweichungen.

    LG Wolke

  • ich sag nur eines dazu, eher allgemein. Die AUFGABE der heutigen Medizin ist es, Symptome zu lindern und zu bekämpfen. NICHT aber die Wurzel selber! Und das ist es was so viele Ärzte rasend macht vor Wut, weil sie angehalten sind die Symptome zu lindern, die wieder kommen, in der ein oder anderen Form und dann wieder behandelt werden mit den dafür zugelassenen Medikamenten. Wir haben eine Medizin der Symptombehandlung, die kurzfristig lindert und GELD bringt.

    Das ist jetzt sehr überspitzt, aber meiner Erfahrung nach, nach vielen Gesprächen mit unterschiedlichsten Ärzten, der Alltag und einer der Gründe warum ich ein Medizinstudium meinerseits, mittlerweile sehr kritisch betrachte.

  • Future
    Finde ich jetzt gar nicht so überspitzt. Ich bleibe da einfach wieder beim Thema ADHS. Eine "Heilung", zwar in einem anderen als dem medizinischen Sinn, ist da durchaus denkbar, wie einzelne Versuchsmodelle durchaus nahelegen können. (Heilung hieße hierbei für mich dauerhafte Linderung, in einer Art, dass die Linderung umstandsinduziert und die Folgen irrelevant wären.)
    Diese Heilung ist aber eben nicht so recht möglich, wenn wir über die gesellschaftlichen Grundmechanismen sprechen, in denen wir gerade leben müssen.
    Freilich gilt das nicht nur für ADHS, sondern auch für eine Menge anderer psychischer, als auch körperlicher Befindlichkeiten.

    Wolke

    Zitat

    Und in diesem Zusammenhang geht es mir um genau die Diagnosen, die dann weniger aus Leidensdruck heraus, sondern aus dem Wunsch nach Angepasstheit entstehen. Warum verdoppeln sich die Anzahl der Diagnosen so rasant? (ein bisserl polemisch gefragt) - aber wenn man da im Netz Sucht (und nicht bei Cafe Hollunder ), dann stolpert man über Zahlen, die heftig sind - Zunahme der verschriebenen Menge innerhalb von 10 Jahren von ca 50kg auf ca. 1000 kg.

    Da sind viele "zweifelsfrei" (was immer das im Zusammenhang mit einer losen Symptomsammlung heißen mag) Betroffene mit die Ersten, die diesen Umstand bemängeln.

    Gut, ein Teil der Mehrverordnungen, lässt sich aus zwei Umständen heraus erklären. Die Anerkennung des Umstands, das ADHS bei einem Mehrteil bis ins Erwachsenenalter fortdauert, war vor zehn Jahren schlichtweg nicht gegeben. Das Credo hieß: "Das wächst sich aus! Basta!" (Findet sich im Übrigen auch noch viel bei "altgedienten" Medizinern.)
    Der andere Umstand ist auch ganz simpel: Wie ich ja schon schrieb, ist die vierfach häufigere Diagnose bei Jungen etwas überholt. Während noch vor einem Jahrzehnt vor allem die Hyperaktivität, sprich, vor allem das Rumgezappel besonderes Augenmerk erhielt, hat sich das Ganze mittlerweile in Richtung Aufmerksamkeitssteuerung, Konzentration verschoben. Primitiviert gesprochen, lässt sich unterscheiden zwischen ADS ohne und mit Hyperaktivität (ADHS), zwischen Traumsuse und Zappelphillip. Erstere ist schlichtweg motorisch kaum auffällig, dafür innerlich umso getriebener. Der Anteil der nicht kinetisch auffälligen Klienten ist schlichtweg angestiegen. Dazu kommen halt noch die schwierig diagnostizierbaren Mischfälle.

    Weißte, es ist auch so, dass Viele der älteren Betroffenen in den vorherigen Jahrzehnten ihres Lebens eine wahrhafte Odyssee durch psychiatrische Einheiten und Diagnosestellungen durchlebt haben, mal unter Borderline, NPS, bipolar, atypisch Depressiv liefen, je nachdem, was der Behandelnde gerade im Fokus hatte, und nie irgendeine Form der Linderung erfahren konnten. Und an der Stelle gilt für mich auch: Ob's nun ADHS ist, oder nicht, ist mir schnulle... der Zweck heiligt da einfach mal die Mittel.
    Worauf ich hinaus will: es gibt einen nicht unerheblichen Teil von mittlerweile unter MPH-Medikation stehenden, die auch schon viele Jahre vorher psychiatrisch auffällig waren, nur andere Medikamente verabreicht bekamen.
    Von daher maße ich dieser in Absolutzahlen schon extremen Steigerung in der Praxis gar nicht mal soooo viel Bedeutung zu.

    Klar gibt's auch die andere Seite der Medaille. Die gab es schon immer. Es gibt Eltern, die eben an dieser Stelle Schindluder betreiben, nicht nur aus Gründen der Anpassung, sondern auch aus Gründen der simplen Leistungssteigerung, im Sinne eines noch erfolgreicheren Wettbewerbs. Klar, eine Medikation, die nicht nur ernsthaft betroffenen hilft, sondern auch für Otto-Normal-Kind der Leistungssteigerung dienlich sein kann, lädt doch schon zu Missbrauch ein.
    Aber ich sehe auch ein Problem darin, hinter allzu viel therapierten Kindern eben diesen Umstand zu mutmaßen, einfach auch, weil es den Glauben schürt, dieser Missstand wäre die Norm. Das schürt nur zusätzlich den Wettbewerb, und damit den Missbrauch.
    Oder anders: Wenn ich Leistungssportler bin, und von jedem anderen Leistungssportler denke, er würde dopen, ist die Chance einfach hoch, dass ich auch damit anfange.
    Ja klar, gerade in den USA ist der Prozentsatz missbräuchlich eingestellter Kinder gar nicht mal so niedrig, und wenn man dann noch elterliche Kommentare hört, wie "Naja, wir geben das halt, weil wir Angst haben, dass unser Kind leistungstechnisch hinter die ganzen gedopten Kinder zurückfällt!", dann gehen auch bei mir die Alarmglocken an. Gerade bei allzu "guten" Elternhäusern (wir kennen diesen Typus, der von Johann Peter IV erwartet, dass dieser Anwalt wird), bin ich auch immer äußerst skeptisch. Aber sind wir mal ehrlich: das sind dann auch oft diejenigen Elternhäuser, in denen bei einem allzu "unpässlichen" Zeugnis gern mal der Gürtel zu eng wird, die Missbrauchsform hier einfach nur eine andere ist.

    Keine Sorge, ich gemahne auch immer zur Vorsicht mit allzu schnellen und leichtfertigen Diagnosestellungen, verweise immer und immer wieder auf die Menge an Tests, die ich durchlaufen habe, verweise auf umfangreiche Differentialdiagnostik (allein ein Schiefstand der HWS kann fast das gleiche Symptombild hervorrufen), und weiß auch, dass das in der Realität so nicht immer stattfindet. Und mein Grundsatz ist auch immer: Wenn's ohne MPH geht, dann gefälligst ohne MPH, betrachte dieses Medikament immer als Ultima Ratio. Ich quäle mich nicht umsonst erst immer monatelang rum, bevor ich den Schritt zum Arzt gehe, und mir mal wieder vorübergehend etwas verschreiben lasse. Aber gerade bei den Eltern, die sich wirklich ernsthaft damit auseinandersetzen, und nur nach einem "halbwegs guten und richtigen" Weg für ihr Kind suchen, rennt man da offene Türen ein. Was die teilweise an Zeit, Geld und Herzblut investieren, um gangbare Wege zu finden, ist teilweise echt anrührend, und stimmt mich oft auch neidisch.

    Dir stoßen letztlich nur die Grundsätze der geldfixierten Leistungsgesellschaft auf: da heißt es halt enge Standards stecken. So ein DIN-genormter Teller passt halt in jeden Geschirrspüler. :winking_face:
    Mir mag das freilich auch nicht gefallen. Gerade im Bereich der Uni war ich tatsächlich überrascht, wie viele Studenten, Dozenten und Professoren sich in der Hinsicht leidenschaftlich organisieren. Allein an der Uni Leipzig kann man beinahe wöchentlich an entsprechenden Veranstaltungen teilnehmen. Ich für meinen Teil fühle mich allerdings viel zu desillusioniert, um mich noch irgendwelchen idealistischen Ansätzen zu widmen. Ich würde gern nur irgendwie halbwegs krauchend überleben. Das soll mir Anstrengung genug sein. :grinning_face_with_smiling_eyes:

    Zitat

    Als Frau habe ich seit mehreren Jahrzehnten viel viel mehr Möglichkeiten, als ich sie in vielen Jahrhunderten zuvor hatte. Gerade als Frau kann ich nun - mit Recht! - unabhängig leben, und dies war vorher kaum möglich. Die Frauen, die dies (in Europa) schafften waren privilegierte Ausnahmen.

    Und heute ist eine verhältnismäßig privilegierte Stellung nicht mehr Ausnahme, sondern eher die Regel.
    Ohne das jetzt groß herleiten zu wollen, weil ich mich da auch nicht sooo aus dem Fenster lehnen möchte, in den theoretischen Grundlage nicht ganz so firm bin: Wenn wir über Möglichkeiten sprechen, können wir nur begrenzt von einer Erweiterung sprechen, müssen eher von einer Verschiebung sprechen.

    Und ganz ehrlich, haben an dieser Verschiebung weniger die gesellschaftlichen, denn die medizinisch-biologischen Umwälzungen Ursache. Bezüglich "gut und richtig" werden zukünftige Generationen richten müssen. Ich stelle da mal einfach in den Raum: von einem individualistischen Ansatz her, sind diese Änderungen einfach nur begrüßenswert. Aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive betrachtet, bin ich schon etwas skeptischer.
    Wie immer bei dieser Thematik der Hinweis, dass ich die Gleichstellung und -berechtigung der Frau aus ganzem Herzen befürworte. Um aber auch noch einmal den Bogen zur Grundproblematik der Leistungsgesellschaft zu spannen: In dieser Hinsicht hat sich dadurch jedoch so Einiges verschärft, und das bekommen wir gerade zu spüren. :grinning_face_with_smiling_eyes: Das ist aber ein anderes Thema. :face_with_tongue:

  • Ich habe früher auch anders darüber gedacht: Als Kind bzw. Jugendlicher war ich von Ritalin auch nicht überzeugt und nannte es immer "Meine Drogen". Mit 15 wurde mit der Behandlung aufgehört und ein halbes Jahr später habe ich mit Drogen angefangen und mich nur noch damit Reguliert!

    Nun habe ich vor einem Monat mit Medikinet angefangen und mit den Drogen aufgehört und mir gehts bestens.

    Ich denke die Entscheidung muss jeder für sich selbst finden!

  • Zitat

    Ich denke die Entscheidung muss jeder für sich selbst finden!

    Klar, da hast du einerseits sicher Recht. Andererseits ist es in der Realität oft problematisch, weil es sich beim Thema ADHS eben viel um die Behandlung von Kindern dreht, dort naturgemäß Andere die Entscheidung treffen müssen, was gut, bzw. richtig oder eben nicht ist.

    Zitat

    Nun habe ich vor einem Monat mit Medikinet angefangen und mit den Drogen aufgehört und mir gehts bestens.

    So ähnlich habe ich das seinerzeit auch erlebt. Vor meiner Diagnose ein Jahrzehnt permanent auf Crystal, ein paar Tage Strattera eingenommen, und "einfach" aufgehört. Ohne großes Heckmeck oder Trara. So kann's gehen.

    LG
    WbD

  • Hallo,

    ich würde als betroffene Mutter gerne mal meinen Senf dazugeben.

    Bei meiner heute 11 jährigen Tochter wurde ADS in der 1. Klasse Grundschule festgestellt. Die Lehrerin meinte eine Behandlung mit Medikenet wäre wohl sinnvoll, da sie dann dem Unterricht besser folgen würde und im Unterricht auch sitzten bleiben würde.Ihre Leistungen waren für unser schickes Wohnviertel -ich bewohne da jedoch ne ganz einfache Wohnung, also nix mit schick, eher renovierungsbedürftig- , in dem ca. 3/4 der Schüler aufs Gymnasium und Realschule abgehen, nicht zufriedenstellend. Die Noten eine gute 4.

    Also ließ sie mit dem Medikament behandeln. Der Arzt, überreichte mir nach kurzer Begutachtung und Lesen der Diagnose sofort, das Rezept. Schulisch wurde sie wirklich besser und sie redete auch nicht mehr wie ein Wasserfall. Doch aus dem Hort bekam ich die Rückmeldung, das sich mein Kind völlig verändert hat. Sie spielte nicht mehr, zog sich zurück und hatte nichts mehr von ihrer witzigen Art.

    Plötzlich nach 6. Wochen begann sie wie eine Irre sich die Hände zu waschen, weil sie ständig dachte es wäre etwas giftig und sie traute sich nicht mehr z. B. Pflanzen, Waschpulver, Reinigungsmittelflaschen usw. zu berühren. Also ab zum Arzt. Der sagte mir dann so lapidar, wenn Patienten sowieso eine Angststörung hätten, könne das Ritalin diese verstärken. Also wurde Ritalin abgesetzt. Meine Tochter war wieder die alte, doch das Händewaschen blieb. 1 Jahr lang, es hörte erst auf, nachdem sie sich die Hand gebrochen hatte und keine Hände waschen konnte. Ich erklärte ihr, sie hätte jetzt 6 Wochen mit dem Gibs keine Hände waschen können und lebt noch immer :r:.

    Und der Ärger mit der Schule nahm zu. Ich wurde unter Druck gesetzt, wieder Ritalin zu verabreichen. Ich besuchte mit meiner Tochter in 3 Jahren ständig irgendwelche Ärtze, die sich als Spezialisten ausgaben. Bei einem davon stapelten sie die ADS-Aktenordner auf den Schränken, sodaß ich überlegte, ob den alle ADS-Kinder in Nürnberg leben würden. Selbstverständlich sagte mir auch dieser Doc, also ohne Ritalin geht gar nix, malte total schwarz und ich bekam totale Angst. Angst, dass mein Kind irgendwann Süchtig werden würde, da auch ich die Statistiken kenne. Viele Süchtige sind ADS´ler. Ich rannte von einem Doc zum anderen, am Ende wollte mein Kind nicht mehr. Therapien gibt es auch nicht, wenn man sich weigert Ritalin zu geben. Den Rezeptblock hätten jedoch alle direkt gezückt.

    Der Druck stieg, Übertittszeugnisse standen im Raum und selbstverständlich erreichte mein Kind "nur" die Hauptschule. Ihr Grundschulzeugnis hatte eine Druchschnitt von 3,8. Die Zeit in der Grundschule waren der totale Horror. Die anderen Eltern schauten mich total schief an, ich fördere mein Kind nicht usw. Nebenbei hat sich zu dieser Zeit mein Problem mit dem Alkohl entwicklelt. (Da war aber nicht nur das mit meiner Tochter ausschlaggebend, sondern auch noch andere Private Dinge).

    Kurz und gut. Seit 09 letztes Jahr besucht meine Tochter die Hauptschule. Und siehe da, die Lehrer dort haben mich wie ein Auto angesehe, als ich ihnen von der Diagnose erzählte. Meine Tochter hat eine ordendliche Heftführung, arbeite im Unterricht konzentriert mit, zappelt nicht ständig rum, die Noten.....naja mal sehen, aber seit wir den Druck rausgenommen haben, ist alles ein wenig leichter.

    Ich finde den Leistungsdruck und die Begründung, es muss Real- oder Gymnasium sein, einfach richtig mies. Meine Tochter wird ihren Weg gehen. Egal welche Schule sie besucht. Nebenbei bin ich mir eigentlich sicher, würde ich diagnositziert werden, hätte ich es auch. Sie ist mir so ähnlich. Konzentration schlecht, wenn mir etwas Spaß macht kann ich es, andere Dinge gehen nicht.

    Meine Kleine ist sicherlich auch anstrengend. Mit Eigenorganisation ist da nicht viel. Wenn ich nicht vordenke, oder genaue Anweisungen gebe, geht nix. Und 3 Anweisungen auf einmal geht eh nicht. Ich war damals in der Schule halt nur die Faule und Doofe die einfach keinen Bock hat und ständig gestört hat. Damals waren die Erziehungsmethoden und Erwartungen an die Kinder -auch bei uns im Westen- einfach anders. Zucht und Ordnung waren gefragt. Bei meinem Kind versuche ich halt drauf einzugehen. Sie zu nehmen wie sie ist.

    Ich sehe es auch so, mit ADS ist man meiner Ansicht nach nicht krank. Es ist eine Eigenschaft die ein Mensch besitzt. Meine Tochter sieht viele Dinge die gar nicht wahrnehme. Ich bin mir bewusst, sie nimmt sie anderes wahr. In Kreativen Dingen ist sie ne Wucht, dafür happert es jedoch in Mathe und Deutsch. Das ist halt so lala auf ner 3.

    Selbstverständlich treffen meine Erfahrungen nicht auf alle zu und ich glaube, das mein Kind eine mildere Form hat. Sie ist nicht aggresiv oder ähnliches. Und ich kann auch nicht beurteilen ob eine Medikamentation für andere wichtig ist. Ich wollte nur meine Erfahrung mitteilen.

    Ob meine Entscheidung gegen Ritalin richtig ist, weiss ich nicht und ich habe selbstverständlich Angst, mein Kind beginnt später auch sich selber zu medikamentieren. Aber ich muss eine Entscheidung treffen.

    LG Taddl

  • Hi Taddl,

    ganz klar eine schwierige Entscheidung, auch im Allgemeinen. Die Diagnose ADHS an sich sollte man auch als Elternteil immer streng durch Eigenbeobachtung prüfen, empfohlene Medikationspausen einhalten, usw. Letztlich kann die Symptomatik auch aus einer gänzlich anderen Ecke kommen, und wenn "Angststörung" im Raum steht, gehen da bei mir die Lämpchen an, weil die Auffälligkeiten auch aus dieser Ecke kommen könnten. Wenn es ohne geht, umso besser. Für mich persönlich, und da wird mir leider ein Teil der ADHS-Betroffenen eben nicht zustimmen, sind Medikamente immer Ultima Ratio, nicht der Weg erster Wahl. Wie auch schon mehrfach in diesem Thread angesprochen, lässt sich auch eine Menge über Verhaltenstherapie, bzw. sinnvolle äußere Umstände machen. ADHSler sind oft ziemlich empfänglich für ihre Umwelt, nicht nur im Sinne von Reizen, sondern auch im Sinne der Ästhetik und des allgemeinen Umgangs. Ein Schulwechsel in eine andere "Atmosphäre" wirkt manchmal wahre Wunder.

    Ob nun Krankheit, Behinderung, oder Besonderheit ist freilich einzelfallabhängig. Ich persönlich verspüre auch nicht durch jeden Aspekt dieses Phänomens Leidensdruck, begrüße und liebe einige Elemente sogar, wohingegen mich Teilbereiche arg einschränken und mir bisweilen den letzten Nerv rauben können.

    Das die Medikation in eurem Fall nicht der richtige Weg war, liegt ja auf der Hand. Betreffender Arzt hat durchaus Recht. Stimulanzien können maskierte Angststörungen und andere psychische Befindlichkeiten akut ausbrechen lassen, was bei Kindern sicher problematisch ist. Bei Erwachsenen darf man hier hingegen auch eine Chance auf Behandlung dieser verdeckten Phänomene sehen. Klar hätte man nun auch mit anderen Medikamenten "experimentieren" können. Bei begleitenden Angststörungen ist Amphetaminsulfatsaft oft die bessere Wahl. Da ist halt immer irgendwo zu sehen, ob die mit der Symptomatik verbundene Einschränkung dieses Herumprobieren rechtfertigt. Ist ja für die Kinder auch eine zusätzliche Belastung.

    Einer späteren Selbstmedikation kann man bis zu einem gewissen Grad auch durch einfühlsame Aufklärung zum rechten Zeitpunkt bis zu einem gewissen Grad vorbeugen. Freilich besteht immer die Gefahr, dass das nicht fruchtet. ADHS ist da freilich aber nur ein Faktor von Vielen.

    Zitat

    Therapien gibt es auch nicht, wenn man sich weigert Ritalin zu geben.

    Nunja, die gibt es schon. Allerdings ist eine Menge Geduld, Zehentreten und Rumnerven gefragt, um an entsprechende Maßnahmen zu kommen.
    Solltest du den Verdacht hegen, dass langfristig gesehen irgendwann therapeutische Maßnahmen notwendig werden könnten, kann ich dir nur empfehlen, dich frühzeitig an einen regionalen ADHS-Verband zu wenden. Die kennen entsprechende Anlaufstellen, und die zugehörigen Verfahren oft ziemlich genau, können dir auf jeden Fall mit Kontaktadressen dienlich sein.

    Zitat

    Ich finde den Leistungsdruck und die Begründung, es muss Real- oder Gymnasium sein, einfach richtig mies.

    Für mich persönlich ganz schwierig, darauf zu antworten. Von einem humanistischen Standpunkt aus gesehen, finde ich den Leistungsdruck auch ätzend.

    Andererseits bin ich wiederum auch Verfechter eines gewissen Bildungsideals, und habe auch immer meinen Blick auf die sich stetig wandelnden Bedingungen des Arbeitsmarktes, bzw. den Bedarf an jeweiligen Kräften: Stichwort Bildungsschere.

    Tatsächlich ist es auch so, dass ich aus meiner eigenen Schulzeit, die nun noch nicht soooo lang zurück liegt, noch den Vergleich zwischen Gymnasium und Mittelschule vor Augen habe, in beiden Welten, und weißt Gott es sind tatsächlich Welten, auch so meine Erfahrungen sammeln durfte. Gerade in den höheren Klassen machen sich die Unterschiede bemerkbar. Meiner Erfahrung nach, liegt im gymnasialen Umfeld der Fokus auch im Bereich der Menschenbildung und -entwicklung. Nun, um das nicht großartig ausbreiten zu müssen: Die 10. habe ich auf einer Realschule wiederholt, und für mich war das seinerzeit ein absoluter Kulturschock. Die erste Unterrichtsstunde verließ ich nach gut 10 Minuten, musste erst einmal eine Rauchen und hatte das Gefühl einen großen Fehler begangen zu haben. Eine Freundin, mit der ich seit Einschulung eine Klasse teilte, war den gleichen Weg gegangen, saß auch an dieser Schule direkt neben mir, und folgte meinem Beispiel fünf Minuten später. Wir heulten uns erst einmal beieinander aus. Nun, für mich war es so, als wäre ich plötzlich unter Halbwilden gelandet, in einer Welt der Rohheit und Bildungsunlust. Ganz, ganz merkwürdig für einen Charakter wie mich. Der gegen Lehrer angeschlagene, latent respektlose Ton war mir äußerst fremd, überhaupt der ganze Umgang miteinander. Was habe ich nun in diesem Jahr gelernt? Im Kern nur wie man sinnvoll Unterricht schwänzt und Selbigen gekonnt sabotiert, wo möglich. Während meiner Jahre auf dem Gymnasium hatte ich nicht eine einzige unentschuldigte Fehlstunde, in diesem Jahr sollten es dann gleich über zwei Monate werden, plus Krankentage. :winking_face: Erschreckender war für mich seinerzeit jedoch der stoffliche Unterschied, die Oberflächlichkeit mit welcher Selbiger gelehrt wurde, und wie sehr Auswendiglernen im Verhältnis zu Verstehen favorisiert wurde. :upside_down_face:

    Klar, sind jetzt natürlich nur meine Erfahrungen, und das kann man nicht verallgemeinern. Dennoch begleitet mich seither, wenn ich über eigene Kinder nachdenke, die Einstellung: Wenn Gymnasium irgendwie machbar, dann Gymnasium. Der Rest ist nur eine Notlösung. Meine Freundin sieht das haargenau so, hatte den Vergleich dann bedingt durch eine "nicht dem Bildungsstand entsprechende" Ausbildung im Rahmen der Berufsschule.

    Ich betone: Das ist jetzt keineswegs beleidigend oder generell abwertend gemeint, und spiegelt nur meine ganz persönlichen Erfahrungen wider, die ich weiß Gott nicht für die letztendlichen Schluss der Weisheit halte.

    LG
    WbD

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