Kleptomanie: Umgang mit Kollegen/Arbeit/Ächtung

  • Liebe Betroffene,


    ich habe Kleptomanie, wollte es aber sehr lange (Jahre) nicht wahrhaben. Wenn es mir gut geht, habe ich eine bessere Impulskontrolle; dann denke ich, so schlimm ist es doch nicht. Wenn es mir allerdings schlecht geht, kann ich nicht anders. Bisher habe ich hauptsächlich am Arbeitsplatz gestohlen - Büromaterial, billige Laborutensilien, Lebensmittel. In der Regel ist es niemandem aufgefallen, dass überhaupt etwas fehlt, und wenn doch, waren es Dinge von geringem Wert, die vielleicht auch hätten verlegt worden sein können. Wertgegenstände waren es selten: ein Laptop, der seit Ewigkeiten unbenutzt rumstand, den ich aber unbemerkt wieder zurückbringen konnte. Ein Gutschein einer Arbeitskollegin, die das Institut verlassen wollte, und ein zweiter Gutschein, der als Geburtstagsgeschenk für eine weitere Kollegin gedacht war und den ich sogar selbst gekauft hatte. Ja, in den Situationen, als ich die Gutscheine an mich nahm, war mir rational klar, dass es falsch ist und Konsequenzen haben würde (man kann schließlich zurückverfolgen, wer sie einlöst - es waren beides Online-Gutscheine), ich konnte den Drang aber nicht unterdrücken. Wenn ich etwas stehle, "hilft" es mir in dem direkten Moment, mich lebendig zu fühlen. Es dauert allerdings nicht lange, bis Schuld- und Schamgefühle einsetzen. Das ist ein ziemlicher Teufelskreis: Es geht mir schlecht, ich stehle etwas, es geht mir danach noch schlechter.

    Letzte Woche ist es endlich eskaliert. Ich sage "endlich", weil etwas passieren musste. Ich wurde erwischt - nicht beim Wegnehmen, sondern durch das Zurückbringen des Gutscheins. Wir hatten ihn "gesucht" und ich mich derart in ein Netz aus Lügen verstrickt, dass es einfach auffliegen musste. Zwei Kolleginnen haben mich gestellt und wir hatten ein trotz aller Umstände recht gutes Gespräch (wenn man eine durchgeweinte Stunde als "gut" bezeichnen kann). Eine hat jedoch schon gesagt, sie würde definitiv nicht lügen, wenn sie nach dem Gutschein gefragt wird. Sie ist generell eine sehr redselige Person; es wird also nicht lange dauern, bis mehr meiner Kollegen davon erfahren. Ich habe im Anschluss an das Gespräch mit den Kolleginnen das Gespräch mit einer Person der Chefetage gesucht und mit ihr über das Problem geredet (depressive Phasen, Kleptomanie). Sie war erstaunlich verständnisvoll und will mir helfen, einen Therapieplatz zu finden. Außerdem will sie unser Gespräch vertraulich behandeln, was mir unheimlich gut getan hat. Von ihrer Seite aus werden keine Konsequenzen folgen. Als "Absicherung" haben wir eine befreundete Kollegin von mir einberufen, die mich täglich fragen soll/darf, ob etwas Auffälliges gewesen ist/ich etwas eingesteckt habe. Sie darf auch meine Tasche durchsuchen, um sicherzustellen, dass nichts ungewollt die Arbeit verlässt.

    Da ich an dem Tag zum ersten Mal mit fremden Menschen abseits meines Ehemannes über meine Probleme geredet hatte, wollte ich es auch meiner ehemaligen Kollegin gegenüber erklären und das mit dem Gutschein von damals "wiedergutmachen" (ihr das Geld überweisen). Als ich sie jedoch anrief, war sie extrem aufgebracht und meinte, sie wolle jetzt erst Mal keinen Kontakt. Sie ließ mich keinen einzigen Satz sprechen. Ich weiß nicht, wer ihr davon erzählt hat, dass ich dafür verantwortlich war, aber es scheint innerhalb weniger Stunden schon bis zu ihr vorgedrungen zu sein, dass ich die "Diebin" bin. Einen Tag davor hatten wir nämlich noch normal geschrieben.

    Jetzt habe ich sehr lange und umständlich auf meine eigentliche Frage hingearbeitet: Wie geht Ihr mit Eurer Krankheit auf der Arbeit um? Wem erzählt Ihr davon? Meine größte Angst ist die vor Ächtung; es gibt einige Menschen an meiner Arbeitsstätte, die mir viel bedeuten, denen ich aber trotzdem nicht von meiner Krankheit erzählen möchte (Kleptomanie ist eben nicht so "gesellschaftsfähig" wie Alkoholismus oder Magersucht - das soll in keinster Weise abwertend klingen, es ist nur so, dass ein Kleptomanie-Outing eher mit massivem Vertrauensverlust einhergeht als die beiden gebrachten Beispiele, oder?). Ich bin aktuell nicht wirklich funktionsfähig, weiß nicht, wie ich weitermachen soll, habe furchtbare Angst.

    Eine Selbsthilfegruppe gibt es in meiner Stadt nicht. Auf einen Termin beim Psychologen muss man teils lange warten - Zeit, die ich gefühlt nicht habe, bevor ich endgültig kollabiere. So, wie es mir jetzt geht, werde ich es Übermorgen nicht ohne Nervenzusammenbruch auf die Arbeit schaffen. Wo habt Ihr in solchen Momenten Hilfe gefunden? Wo die Stärke, Menschen ins Gesicht zu sehen, die einen verachten?

    Der Vollständigkeit halber muss ich sagen, dass mein Mann zu mir steht und mir in jeder ihm möglichen Weise versucht, zu helfen. Ich stehe also nicht ganz alleine da. Er weiß allerdings auch nicht, was er tun kann, genauso wenig wie ich. Ich schlafe nicht mehr, habe Herzrasen und einfach wahnsinnige Angst vor der Reaktion meiner Kollegen und anderer Menschen in meinem Umfeld. Ich bin mir sicher, dass ich das Problem mit einer Therapie in den Griff bekommen kann, aber dafür brauche ich erst einmal die Möglichkeit, eine Therapie zu machen.

    Ich weiß nicht mehr wirklich weiter und hoffe, dass jemand unter Euch ist, der den Weg aus einer ähnlichen Situation herausgefunden hat und mir eventuell einen Rat geben kann.

    An alle, die bis hierhin durchgehalten haben: Danke für's Lesen! Das bedeutet mir viel.

    Ich hoffe, Euch geht es besser als mir, und wünsche Euch Kraft und Hoffnung in jeder Lebenslage!

    Latona

  • Hallo Latona,

    Leider habe ich mit Kleptomanie so gar keine Erfahrung, aber ich finde es ganz toll und mutig das du dich hier und auf der Arbeit anvertraut hast. Es ist auch wirklich super das die Person aus der Chefetage dich unterstützen möchte und vorallem das du einen starken Partner an deiner Seite hast.

    Wie ist das denn, also in welchen Situationen steckst du denn Dinge ein? Du sagtest ja meistens wenn es dir nicht gut geht. Wie äußert sich das "nicht gut gehen"?

    Ich bin kein Profi, und auch nicht in der Psychologie tätig. Aber ich lese mit und mir hilft der Austausch hier mit anderen sehr.

    Und ein freundliches Wort und die tollen Ratschläge hier helfen auch.

    Liebe Grüße

  • Wie ist es denn weitergegangen? Ich hoffe, du liest hier die Antworten noch.

    Ich finde Kleptomanie interessant, weil sie eine "Störung" des sogenannten normalen Sozialgefüges darstellt.

    Erstmal denke ich, wer sich in diese Position gebracht hat, darf sich auf gar keinen Fall wundern, wenn er jetzt eine Suppe auszulöffeln hat, aus der Nummer gibt es keinen billigen Ausweg, einfach alles unter dem Teppich zu halten! Und ich sehe darin eine Chance sich mit seinem Sozialverhalten, und den sozialen Strukturen des Umfeldes mal anzufangen, ernsthaft tiefergehend auseinanderzusetzen. Möglicherweise sogar seitens des sozialen Umfelds, falls es dazu in der Lage ist (worauf ich nicht wetten wollen würde).

    Ich sehe da mal in erster Linie jemanden, der hintenrum insgeheim den vor Ort herrshenden sozialen Kodizes einen Tritt in die Kniekehle versetzen möchte (aggressionspotenzial), aber das nicht offen tun will. Und ich sehe jemanden, der noch nicht mit seinen eigenen Gefühlen/Bedürfnissen/Emotion/Umfeld gelernt hat, reif umzugehen.

    Noch mal als Feedback: Wenn man jemanden bestiehlt, dann ist der materielle Wertverlust oft das kleinere Übel. Der größere Verlust ist der verdeckte Angriff aus dem Hinterhalt auf die eigenen Interessen. Die offen versteckte Feindseligkeit aus dem Nebel, ohne dass der Täter sichtbar wird. Das ist auch ein Angriff auf das "soziale Sicherheitsgefühl in der Gruppe". Und es stellt eine Verachtung und Geringschätzung der Person des Bestohlenen, sowie der geltenden Gruppenregeln dar. In dem Sinne: Deine Bedrüfnisse/Besitz lieber Eigentümer wird mit Füssen getreten. Jemand achtet dich gering, nimmt dir das deine weg, weil er es will, oder weil es ihm sogar Spass macht.

    Im weiteren Fortgang des Geschehens, wenn man sich dann zur Verdeckung des "Übergriffs" noch in Lügeln und Heucheln verstrickt, stellt das einen weiteren massiven Angriff auf das soziale Vertrauen in der Gruppe dar. Jemandem ins Gesicht lügen stellt (meiner Meinung nach) noch eine höhere Form der Herabwürdigung, Verachtung und Geringschätzung dar, als ihn bestehlen. Auch wenn es hier nur zur Verdeckung der ersten Tat dient, seitens einer "getriebenen" Person, die sich hoffnungslos weiter verrennt.

    Warum habe ich jetzt (als spontanes Vorurteil) mit einem Kleptomanen trotzdem eine Spur Sympathie trotz all dieses Tabu- und Gesetzesbrüche? Sicher nicht, weil so jemand mutmaßlich gering reflektiert ist und gar nicht so genau weiß, warum er das macht. Auch nicht, weil er hoffnungslos das Urteil der Gruppe fürchtet, gegen deren Regeln er eben noch unterschwellig agierte, und sein brüchiges Ansehen in der Gruppe durch hoffnungslose Lügen schützen will.

    Ganz einfach deshalb ist mir das ganze nicht allzu unsympathisch, weil ich der Meinung bin, dass in den meisten sozialen Gruppen ein hoher Grad an Heuchelei, Hinterfotzigkeit, Intrigen, Mikroaggressionen herrscht. Und dass quasi je kranker und verlogener die Atmosphäre ist, die Wahrscheinlichkeit umso großer ist, dass so jemand auftritt, und einen Kontrapunkt setzt, und ebenfalls mit unfairen Mitteln versucht, einen "status quo" von ausgleichender Gerechtigkeit wiederherzustellen. Und damit auch mutmaßlich irgendeinen Grad von Krankheit des sozialen Gefüges anzeigt.

    Nichts desto weniger entheben Misstände in Gruppen niemals den einzenen Täter, Mitläufer, oder widerrechtlichen Angreifer von der Verantwortung für sein Handeln.

    Und: wenn man Probleme mit Zuständen in einem sozialen Gefüge hat, würde eine reife, tapfere authentische Person das offen konfrontieren. Und nicht so wie viele andere... hintenrum mit unfairen Mitteln.

    Mir ist klar dass ich mich mit meiner Analyse (Spekulation) weit aus dem Fenster lehne. Jedenfalls haben hier Missstände ganz sicher Beleuchtung nötig.

    Auch finde ich gut, dass du etwas suchst, bei dem du dich lebendig fühlst, ratsam sind aber weitere Versuche, bessere Betätigungsfelder/Leidenschaften zu suchen und zu finden!

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