Ich möchte euch etwas an meinem Lebens- und Leidensweg teilhaben lassen und erhoffe mir, Ideen und Anregungen über meine Erkrankung und weitere Zukunft zu bekommen und euch anzuregen, selber von euren Erlebnissen zu berichten. Leider ist dieser Bericht sehr lange geworden. Ich freue mich über jede Antwort!
Meine Kindheit
Aufgewachsen bin ich in einer sehr vertrackten Familie. Meine Eltern haben beide sehr schwere Schicksale in der Kindheit und Jugend gehabt. Mein Vater musste stark unter seinem rechthaberischen und reizbaren Vater leiden und ist ein extrem zurückgezogener und kalter Mensch (schizoid?) ohne Wunsch nach sozialem Kontakt geworden. Meine Mutter beschwert sich oft über ihn, da sie keinerlei gemeinsame Aktivitäten ausüben. Sie verlor früh ihre leibliche Mutter und litt fortan unter ihrer tyrannischen Stiefmutter. Oft wundere und ängstige ich mich über die funktionale Beziehung meiner Eltern und fürchte, dass ich der einzige Grund ihres Zusammenlebens bin. In meiner Kindheit war ich allein auf meine Mutter fixiert und verschwor mich gewissermaßen mit ihr gegen meinen Vater. Bei gemeinsamen Spaziergängen spielten wir immer ein Rollenspiel über eine fiktive Familie, bei der meine Mutter stets die schlechten und unterdrückten Rollen von mir zugeteilt bekam - vielleicht unbewusst, um sie in ihrer wirklichen Rolle zu trainieren.
Ich war immer ein recht eigenwilliger und selbstständiger Mensch, der viel Freiraum benötigt und ziemlich unsicher im Kontakt mit anderen ist, auch wenn ich das gut überspiele und eher überheblich rüberkomme. In der Grundschule schrieb ich Krimis und Geschichtchen, die ich der Klasse in der Pause vorlesen durfte, ich dachte mir Filme und Musikvideos beim Musikhören aus und war irgendwie ein kleines Wunderkind, das immer nett, zuvorkommend und furchtbar leicht durchs Leben und die Schule kam. Stets war ich fasziniert von Grenzgängen und Zwischenräumen der Realität, sammelte etwa schon in der fünften Klasse Broschüren über Drogen und interessierte mich sehr für Achterbahnen und Freizeitparks.
Meine Jugend
Mit etwa 14 begann ich nach kurzen Alkoholexzessen gemeinsam mit C. die Lady Jane zu schätzen. Es waren wunderbare Tage auf einem Gartengrundstück inmitten sonnengelber Felder und zierpender Grillen. Bald klärte ich auch meine Eltern über Cannabis auf und wir kamen darin überein, dass ein Konsum akzeptabel wäre. In den kommenden Jahren rauchte ich immer häufiger, schließlich täglich nach der Schule. Ich begann Gitarre zu spielen und schrieb Kurzgeschichten und Gedichte. Ich verliebte mich zum ersten Mal sehr kompliziert, empfand mich selbst als ungenügend und unattraktiv und erlebte meine Unfähigkeit, über meinen Schatten zu springen und zu meinen tiefsten Gefühlen zu stehen, wofür ich mich fortan verfluchte. Das tägliche Kiffen verheimlichte ich so gut es ging vor meinen Eltern - und obwohl wir in einer Wohnung leben und mein Zimmer direkt neben dem von meinem Vater liegt, ging es erschreckend gut. Dennoch empfand ich oft Furcht, der allabendliche Gute-Nacht-Joint am Dachgeschossfenster wurde zur paranoiden Tortur und beim gemeinsamen Abendbrot zog ich mich zurück anstatt mich womöglich zu verhaspeln. So verpasste ich auch meinerseits auf meinen Vater zuzugehen und erzeugte viel (überflüssiges?) Schuldbewusstsein bei mir.
Immer wieder wollte ich aufhören, schaffte es dann aber nicht, was mein Selbstwertgefühl weiter in den Keller zog; immer wieder redete ich von Aufbruch, Erwachen, endlich zu mir selber finden, freier auf Menschen und vor allem Frauen zugehen zu müssen und resignierte am nächsten Tag wieder. Andererseits gefiel ich mir natürlich auch als abgefuckter Kreativer. Ich begann elektronische Musik kennenzulernen, probierte mit 17 LSD und übertrieb schon beim dritten Mal auf einem Goa-Festival, der VooV, so arg, dass ich auf einem furchtbaren Höllentrip dem Teufel in Person einer Frau gegenüber saß, um mein Leben weinte und fürchtete, zu ersticken und nun endgültig verrückt zu sein. Ausgelöst wurde das auch durch meine Unfähigkeit, mir einzugestehen, dass es zu viel wird, und meiner Angst oder dem verletztem Stolz, andere um Hilfe zu bitten. Mit meinen Eltern sprach ich kaum über meine Emotionen und Ängste, auch meinen Freunden ließ ich selten Einblick in mein kompliziertes Innenleben. Selber drehte ich mich in meinem Kopf im Kreis und dachte immer wieder über meine Fehler und Versäumnisse nach. Ich habe furchtbare Angst davor, wie Hesses Steppenwolf am Ende meines Lebens realisieren zu müssen, dass ich an entscheidenden Stellen falsch, also gar nicht gewagt und gehandelt und damit mein Leben verschwendet habe.
Nachdem meine erste wirkliche Beziehung mit 18 in die Brüche ging, erlebte ich mich zum ersten Mal völlig fremd, apathisch und ohne Füße auf dem Boden. In einem Sommerurlaub mit meinen Eltern war ich völlig Depressiv und antriebslos, ebenso in der Zeit rund um mein Abitur. In diesen Phasen war ich vollkommen lustlos und betäubt, alle Musik war langweilig, jeder Tagebucheintrag riss nach drei Zeilen ab, nichts machte Sinn oder ließ mich etwas fühlen und dennoch kiffte ich weiterhin, obwohl ich mir sicher war, dass das grüne Kraut Schuld an diesem Zustand hat. Ich machte mir Sorgen über meinen geistigen Zustand, wollte nur noch weg vom klaustrophobischen Zuhause und dem Käfig der langweiligen und ausgelutschten Kleinstadt.
Ein Jahr in Berlin
Berlin, du wunderbare, häßliche, dreckige und anregende Stadt! Ich kannte Berlin von drei Reisen und hatte mich dort stets inspiriert, selbstbewusst und unbeschwer gefühlt. Kurzum, Berlin war mein Paradies, meine echte Heimat. Unmittelbar nach dem Abitur zog ich mit 19 in eine WG in einem wunderbaren Altbau in Neukölln mit hohen Decken und Stuck und leistete meinen Zivildienst in der Altenbetreuung ab. Das erste halbe Jahr war für mich wunderbar: all die neuen Eindrücke, endlich selbstbestimmt leben, Gitarre spielen, wann immer ich will. Ich gründete eine Band und lernte so zumindest einen guten Freund kennen, kiffte nur noch am Wochenende und ging ausgiebig zu Minimaltechno tanzen. Immer mehr Zeit verbrachte ich vor meinem PC, schraubte selber an Beats und Synthesizern herum und träumte von eigenen Veröffentlichungen und Auftritten. Die elektronische Musik hatte mich vollends gepackt und in Eigenregie lernte ich schnell und brachte immer Professionelleres zu Stande. Darunter litt auch meine Arbeit, denn wenn ich einmal gut dabei bin, möchte ich mich nicht durch acht Stunden langweiliger und repetativer Arbeit rausbringen lassen. Das sorgte für eine Verstimmung zwischen meiner Chefin und mir. Meinen Zivildienst und meine älteren Kollegen empfand ich zunehmend als Einschränkung und Belastung.
In diesem halben Jahr grübelte ich kaum herum und vertrug mich mit mir prächtig. "How can't you love this madcap world" ist eine Phrase aus dieser Zeit, die Bezug auf meine traurige Zeit nimmt und mein ruhiges, ausgesöhntes und dankbares Gefühl wiederspiegelt. Ich fragte mich zwar, ob ich einen Scherbenhaufen in der Kleinstadt zurückgelassen hatte, ging jener Frage aber nicht weiter nach. Dass ich kaum Leute kennenlernte, interessierte mich auch nicht sonderlich, da ich mit mir selbst und meiner Musik eh genug beschäftigt war und sozialen Kontakten dementsprechend sowieso kaum nachgekommen wäre. Über die Übervorsichtigkeit meiner Eltern in Bezug auf den Zivildienst und Finanzielles ärgerte ich mich oft, da es mir so vorkam, als ob sie sich immer noch zu sehr in mein Leben einmischten und mir zu wenig zutrauten, beziehungsweise vermieden, über wirklich Entscheidendes wie mein Gefühl reden zu wollen.
Kurz vor Neujahr 2008 passierte eine Menge: ich besuchte meine Eltern und wunderte mich darüber, wie schön ich meine einst verhasste Kleinstadt mit meiner neuen Perspektive nun wahrnahm und dass es weniger diese Stadt und meine Umstände, als ich selber gewesen war, der mich in einen Käfig gesteckt hatte. Gemeinsam mit einem guten Freund besuchte ich ein Festival in Den Haag und konsumierte ausgiebig Cannabis, genauso als mich zu Sylvester drei Freunde aus der Kleinstadt besuchen kamen. Anstatt Berlin ausgiebig zu genießen und viel auszugehen, wurden wir der Reihe nach krank und verplemperten viel Zeit mit irgendwelchen Cartoons wie Family Guy. Kurz zuvor hatte ich eine hübsche italienische Touristin kennengelernt, die in mir viele Erinnerungen an meine Jugendliebe erweckte und mir abermals zeigte, wie ängstlich und übervorsichtig ich in Bezug auf das andere Geschlecht bin. Durch meine Freunde verbrachte ich auch weniger Zeit mir ihr, als ich wünschte, und ärgerte mich über unsere Faulheit und das andauernde Herumlungern.
In den darauffolgenden Monaten fiel ich in den alten, verhassten Trott zurück und durchlitt eine so intensive und lange depressive Phase wie nie zuvor. Ich kiffte wieder täglich, schaffte es nicht, damit aufzuhören und verfluchte mich dafür. Die Bandproben ließ ich schleifen und schließlich trafen wir uns gar nicht mehr. Am Wochenende traute ich mich manchmal gar nicht mehr aus dem Haus und wenn doch, behielt ich immer eine Mütze auf, weil ich mich häßlich fühlte, und scheute vor Augenkontakt und Gesprächen zurück. Ich begann selber, Cartoons und Serien anzuschauen, was ich früher als langweilig und verdummend ablehnte, und verfluchte mich noch mehr. Auf meiner Arbeit erschien ich immer müder und lustloser und wusste oft nicht, worüber ich reden sollte, vor allem, als eine neue, junge und hübsche Kollegin zu uns kam, die ich gerne näher kennengelernt hätte. Über die Frage, ob ich wieder meine Eltern und zahlreiche zurückkommenden Freunde besuchen sollte, dachte ich eine Woche lang nach, meldete mich schließlich bei einer Mitfahrgelegenheit an und fuhr doch nicht, weil ich mich einfach nicht entscheiden konnte. Ich war nichts als "techno & denial" - irgendwelche Beats basteln, was mir zunehmend sinnloser erschien, und mich selbst in dieser doch eigentlich so paradiesischen und traumhaften Stadt verleugnen. Ich drehte mich im Kreis, grübelte herum, verfluchte mich und wurde zu einem traurigen, völlig verunsichertem und vereinsamtem Wrack.
Als meine Mutter mich schließlich ahnungslos besuchen kam, um mit mir über meine nicht vorhandenen Zukunftsplänen zu sprechen, brach ich schließlich in Tränen aus. Auf ihr Drängen hin kontaktierte ich eine Suchtberatung, ließ mich dort aber nach drei Treffen nicht wieder blicken. Im Mai war mein Zivildienst beendet, ich wurde zwanzig und meldete mich sofort als Hartz IV an, obwohl ich eigentlich in Cafés jobben gehen wollte. Ein guter Freund J. aus der Kleinstadt zog für ein Praktikum zu mir und meine Vorfreude und Hoffnung auf Besserung und viele gemeinsame Aktivitäten und Projekte erfüllten sich nicht. Ich war immer noch unheimlich befangen, kiffte wie ein Schlot und oft schwiegen wir uns nur an und schauten gemeinsam irgendwelche Serien. Ich musste auf seinen frühen Arbeitsbeginn Rücksicht nehmen, konnte also nicht einmal mehr musizieren, wann es mir gefiel, und fühlte mich irgendwie ausgenutzt, da ich überwiegend einkaufen ging, kochte und bezahlte. Bis ich solche Themen ansprach, verging viel Zeit und belastendes Schweigen. Im Nachhinein frage ich mich, ob ich nicht zahlreiche eigene Probleme durch J. zu verdecken versuchte.