Wolke
Also für mich ist es so, dass ich stark nach der Art der Erwartung differenziere.
Habe ich eine rein objektbezogene Erwartung an etwas oder jemanden, dann ist das für mich eine Enttäuschung. Enttäuschungen treten permanent auf. Ich freue mich auf schönes Wetter, und es gießt aus vollen Kannen. Naja, Erwartung enttäuscht, Pech gehabt. Emotional bewegt mich das nicht sonderlich.
Hege ich jedoch eine emotionale Erwartung an irgendjemanden oder irgendwas, kann daraus leicht eine Verletzung entstehen.
Ein Freund hat eine gewisse Ahnung davon, was mir emotional wichtig ist im Leben. Jeder weiß, wie wichtig mir meine Intimsphäre ist, dass ich ein Geheimniskrämer bin und es mich aus dem Tritt bringt, wenn diese verletzt wird. Lasse ich meinen Freund kurz in meinem Zimmer sitzen, wo auch mein Tagebuch herumliegt, so vertraue ich ihm, dass er respektieren wird, was mir wichtig ist, mache ihm das heilige Geschenk meines Vertrauens. Das er dort sitzt, das Buch offen herumliegt wird so zum vorübergehenden Fundament unserer Freundschaft. Alles Wesen der gesamten Freundschaft kondensiert in diesem Moment in diesem Tagebuch. Ich öffne ihm Tor und Tür zu meiner Verletzlichkeit, zeige mich verwundbar. Ich pelle mich aus meiner Ritterrüstung, lege Schild und Schwert beiseite, beraube mich jeglicher Verteidigungsmöglichkeit. Liest er es, stößt er mir das Schwert zwischen die Rippen und hat vorher noch gewartet, bis ich am verwundbarsten vor ihm sitzen würde... das tut weh.
Genauso ist es ein Unterschied, ob zwei Freunde um den gleichen Partner buhlen, oder ob mein Freund mir meine Partnerin abwirbt, wohl wissend, wie sehr mich der Verlust der Beziehung schmerzen würde. Das ist vorsätzlich, und so wird mir der Trennungsschmerz vom Freunde und nicht der eigentlichen Trennung zugefügt... ich bin verletzt. Sein Verhalten war selbstsüchtig und obendrein auch noch feige, denn als Freund hätte er sich zurücknehmen können, und wenn er mir in tiefer Freundschaft vertraute, so hätte er mir seine romantischen Gefühle gegenüber meiner Partnerin offenbaren können, sich seinerseits vor mir verletzlich zeigen können, wohl wissend, dass ich ihm nicht schaden würde. (Kennst du das "Il Decamerone" von Giovanni Boccacio? Zum Thema: "Spinelloccio in der Kiste" -> 24. Novelle Da kommt das Wesen einer Freundschaft schön zum Ausdruck.)
Ach herrjeh, es ist immer so schwer Gefühlsvorgänge wiederzugeben, weil das nur über rationalisieren machbar ist und sich so vom eigentlichen Wesen der Dinge entfernen muss.